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Anmerkung zu:OLG Brandenburg 12. Zivilsenat, Urteil vom 16.12.2021 - 12 U 42/21
Autor:Rainer Wenker, Ass. jur.
Erscheinungsdatum:29.03.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 17 StVG, § 4 StVO, § 1 StVO, § 7 StVG, § 8 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 7/2023 Anm. 1
Herausgeber:Jörg Elsner, LL.M., RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Dr. Klaus Schneider, RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Zitiervorschlag:Wenker, jurisPR-VerkR 7/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zurechnung der Unfallfolgen beim Sturz eines ausweichenden Motorradfahrers



Leitsatz

Stürzt ein Motorradfahrer, weil er in Folge des Vorfahrtsverstoßes eines Autofahrers ausgewichen und deshalb mit einer nachfolgenden Motorradfahrerin kollidiert ist, können die Unfallfolgen dem Autofahrer kausal zurechenbar sein. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich die vom Autofahrer geschaffene Gefahrenlage auch auf die Fahrweise der Motorradfahrerin ausgewirkt und zur Kollision beigetragen hat.



A.
Problemstellung
Das OLG Brandenburg hatte sich mit der Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität zu einem Verkehrsunfall zu befassen, bei dem der klagende Motorradfahrer, ohne dass es zu einer Berührung gekommen ist, infolge einer Vorfahrtsverletzung des beklagten Pkw-Fahrers ausweichen musste und deshalb mit einer nachfolgenden Motorradfahrerin kollidierte.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Beklagte bog mit seinem Pkw in die vorfahrtsberechtigte B-Straße ein und veranlasste den Kläger dadurch zu einem Ausweichmanöver mit seinem Motorrad, infolgedessen er nach einer streifenden Kollision mit dem Motorrad der nachfolgenden Zeugin S. stürzte. Die insoweit geltend gemachten Schäden sind noch dem Betrieb des Fahrzeugs des Beklagten zuzurechnen.
Die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil (LG Potsdam, Urt. v. 05.02.2021 - 4 O 333/19) hat daher Erfolg, so dass den Beklagten dem Grunde nach die volle Haftung trifft.
Zwar sei es inzwischen unstreitig nicht zu einer Berührung zwischen dem Pkw des Beklagten und dem Motorrad des Klägers gekommen. Dies schließe jedoch eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG nicht aus. Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ sei entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Es genüge, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt habe und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden sei. Es komme maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang des Kraftfahrzeuges stehe, wobei die Haftung nicht davon abhänge, ob sich der Fahrer des in Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten habe oder es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen sei. Andererseits reiche die bloße Anwesenheit eines in Betrieb befindlichen Kraftfahrzeuges an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Vielmehr müsse das Fahrzeug oder das Fahrverhalten seines Fahrers über die bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst haben, das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15 und BGH, Urt. v. 21.09.2010 - VI ZR 263/09).
Im Streitfall sei bei einer Würdigung der Umstände ein solcher Kausalzusammenhang gegeben. Der Beklagte habe eine kritische Gefahrenlage geschaffen, indem er unter Verstoß gegen § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO in die vorfahrtberechtigte B-Straße eingebogen sei und dadurch den Kläger zu einem Ausweichmanöver veranlasst habe, in dessen Verlauf er zu Fall gekommen sei. Zwar sei es letztlich zum Sturz des Klägers durch die streifende Kollision des Motorrades der nachfolgenden Zeugin S. gekommen. Dies schließe jedoch den Kausalzusammenhang nicht aus, da auch das von der S. durchgeführte Ausweichmanöver durch den Verkehrsverstoß des Beklagten veranlasst worden sei. Grundsätzlich könne der Verursachungsbeitrag eines Zweitschädigers einem Geschehen eine Wendung geben, die die Wertung erlaube, dass die durch den Erstunfall geschaffene Gefahrenlage für den Zweitunfall von völlig ungeordneter Bedeutung ist und eine Haftung des Erstschädigers nicht mehr rechtfertige (vgl. BGH, Urt. v. 26.02.2013 - VI ZR 116/12 und BGH, Urt. v. 05.10.2010 - VI ZR 286/09). Wirken in einem weiteren Unfall die besonderen Gefahren fort, die sich bereits im ersten Unfallgeschehen ausgewirkt haben, könne der Zurechnungszusammenhang hingegen nicht verneint werden. So liege der Fall auch hier. Die durch das verkehrswidrige Einbiegen des Beklagten geschaffene Gefahrenlage habe sich auch auf die Fahrweise der Zeugin S. ausgewirkt und damit zu der Kollision beigetragen, ohne dass man sagen könne, dass die Fahrweise des Beklagten dadurch von völlig untergeordneter Bedeutung geworden sei. Auch der Umstand, dass der Kläger, als er sich nach seinem Ausweichmanöver auf der Linksabbiegerspur der Gegenfahrbahn befunden habe, sein Motorrad abgebremst habe, führe entgegen der Auffassung des Beklagten nicht zu einer Unterbrechung des Kausalverlaufes. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es sich bei dem Abbremsen des Klägers um einen Umstand handeln würde, der vorher vernünftigerweise nicht in Betracht hätte gezogen werden können. Dabei könne letztlich dahinstehen, ob Grund für das Abbremsen herannahender Gegenverkehr auf der Gegenfahrbahn war oder der Kläger, wie es das Landgericht angenommen habe, seiner Verärgerung über den Vorfahrtverstoß des Beklagten Ausdruck verleihen wollte. In beiden Fällen handle es sich nicht um einen Umstand, der außerhalb jeglicher Lebenserfahrung liege und daher vom Beklagten vernünftigerweise nicht hätte in Betracht gezogen werden müssen. Der Kläger habe selbst in der mündlichen Verhandlung anschaulich und glaubhaft geschildert, dass er es so empfunden habe, dass er einer Kollision mit dem Fahrzeug des Beklagten nur haarscharf entgangen sei und er deshalb, um dieses Erlebnis zu verarbeiten, nicht einfach habe weiterfahren können, und er deshalb abgebremst habe. Dies sei für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar und führe nicht dazu, dass aufgrund der verständlichen Reaktion des Klägers eine Haftung des Beklagten nicht mehr als gegeben anzusehen wäre. Selbst wenn der Kläger seiner Verärgerung über die Fahrweise des Beklagten hätte Ausdruck geben wollen, führe dies nicht zu einer Unterbrechung des Kausalzusammenhangs, da angesichts des groben Verkehrsverstoßes des Beklagten eine solche Reaktion des Klägers jedenfalls menschlich verständlich erscheine.
Die somit nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge führe im Streitfall zu einer vollständigen Haftung des Beklagten. Ihm sei ein Verstoß gegen § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO vorzuwerfen. Dieser habe sich auch entsprechend kausal ausgewirkt, indem dadurch der Kläger zu seinem Ausweichmanöver veranlasst worden sei. Ob dies objektiv erforderlich war, sei dabei ohne Bedeutung. Ebenso sei ohne Bedeutung, an welcher Stelle der Kläger letztlich zu Fall gekommen sei. Dass eine Behinderung des Klägers bereits deshalb ausgeschlossen war, weil der Beklagte bereits vollständig über eine bestimmte Strecke in die Vorfahrtstraße eingefahren war, so dass die Wartepflicht des Beklagten bereits wieder entfallen war, sei nicht feststellbar.
Dem Kläger sei ein Verkehrsverstoß nicht vorzuwerfen. Ein etwaiger Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO stehe nicht fest und würde sich zudem nicht zugunsten des Beklagten auswirken. Er habe auch nicht bewiesen, dass sich tatsächlich kein Gegenverkehr näherte und dem Kläger ein zügiges Überholen des Fahrzeugs des Beklagten möglich gewesen wäre. Auch ein etwaiger Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO würde sich im Streitfall nicht zugunsten des Beklagten auswirken, da er durch das Abbremsen des Klägers nicht behindert oder belästigt worden ist. Einen in Betracht kommenden Verkehrsverstoß der Zeugin S., die möglicherweise mit zu geringem Sicherheitsabstand dem Motorrad des Klägers gefolgt sei und deshalb nicht mehr habe ausweichen können, müsse sich der Kläger ebenfalls im Verhältnis zu dem Beklagten nicht zurechnen lassen. Insoweit haften der Beklagten und die Zeugin S. dem Kläger ggf. als Gesamtschuldner für den Schaden.
Im Ergebnis der Abwägung trete somit allein die aus der Betriebsgefahr des Motorrades in Betracht kommende Haftung des Klägers hinter dem grob verkehrswidrigen Verhalten des Beklagten vollständig zurück.


C.
Kontext der Entscheidung
Vorliegend hat der Beklagte sich verkehrswidrig verhalten, so dass sich der Kläger zur Vermeidung einer Kollision veranlasst sah, mit seinem Motorrad auszuweichen. Zum Unfall kam es aber erst, weil der Kläger dann die hinter ihm, ebenfalls mit einem Motorrad fahrende Zeugin S. streifte. Eine Berührung mit dem Pkw des Beklagten gab es nicht. Ein Unfall ereignet sich aber schon dann bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs, wenn sich eine mit dem Fahrzeug als Verkehrsmittel verbundene Gefahr realisiert. Der Halter haftet insoweit dafür, dass er eine Gefahrenquelle eröffnet hat. Dieses Haftungsmerkmal legt der BGH in ständiger Rechtsprechung entsprechend dem umfassenden Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG weit aus. Die Halterhaftung hängt auch nicht davon ab, ob sich der Fahrer verkehrswidrig verhält oder ob es zu einer Kollision der Fahrzeuge kommt, sondern erfasst alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe (vgl. BGH, Urt. v. 19.04.1988 - VI ZR 96/87 und BGH, Urt. v. 26.04.2005 - VI ZR 168/04). Daher kann auch der Betrieb eines Kraftfahrzeugs, der eine objektiv nicht erforderliche, möglicherweise sogar voreilige Ausweichreaktion ausgelöst hat, einem berührungslosen Unfall zugerechnet werden (vgl. BGH, Urt. v. 26.04.2005 - VI ZR 168/04 und BGH, Urt. v. 21.09.2010 - VI ZR 263/09). Es muss sich dementsprechend bei einem Ausweichmanöver nicht um eine ultima ratio handeln.
Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis bei einem berührungslosen Unfall ist aber, dass das Fahrzeug über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung objektiv zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15 m. Anm. Schwartz, jurisPR-VerkR 11/2017 Anm. 1 und BGH, Urt. v. 21.09.2010 - VI ZR 263/09). So hat der BGH beispielsweise eine Ausweichreaktion in der Ausfahrt einer Tiefgarage dem Betrieb eines Entgegenkommenden zugerechnet, der innerhalb seiner Fahrspur einen kleinen Schlenker nach links gemacht und dann sofort wieder nach rechts gelenkt hatte. Auch wenn es sich bei der Ausweichreaktion um eine Panikreaktion gehandelt habe, sei sie doch durch das Verhalten desjenigen verursacht worden, der den Schlenker gemacht hat und der von dem Entgegenkommenden als gefährlich empfunden werden konnte (vgl. BGH, Urt. v. 26.04.2005 - VI ZR 168/04).
Vorliegend hatte der Beklagte nach der Überzeugung des OLG Brandenburg eine kritische Verkehrssituation geschaffen, indem er unter Verstoß gegen § 8 Abs. 2 StVO aus einer untergeordneten und eine bevorrechtigte Straße einfuhr und dadurch den Kläger zu einem Ausweichmanöver veranlasst, welches dann letztlich zu einer streifenden Kollision mit dem nachfolgenden Motorrad der Zeugin S. führte. Der Beklagte hat damit die wesentliche Ursache für den Unfall gesetzt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Berührungslose Verkehrsunfälle sind in der Regulierungspraxis nicht selten. Regelmäßig handelt es sich dabei um Verkehrssituationen, bei denen der Geschädigte dem Unfallverursacher wegen eines verkehrswidrigen Verhaltes ausweicht und dadurch verunfallt. Nach gefestigter Rechtsprechung kommt eine Haftung nach dem weit gefassten Schutzzweck der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs grundsätzlich auch bei Unfällen ohne Berührung in Betracht. Die bloße Anwesenheit des Fahrzeugs am Unfallort ist aber nicht ausreichend. Die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein. Für eine Zurechnung zum Betrieb ist jedenfalls auch erforderlich, dass die Fahrweise oder eine sonstige Verkehrsbeeinflussung durch das Kraftfahrzeug zu dem Unfallereignis zurechenbar beigetragen hat. Dies stand hier nach einer Würdigung der Gesamtschau aller Umstände fest. Nach der Überzeugung des Oberlandesgerichtes bestand ein Kausalzusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Einbiegen des Beklagten und dem Sturz des Klägers mit seinem Motorrad, auch wenn das Ausweichmanöver des Klägers nicht unmittelbar zum Sturz führte, sondern gleich einem Dominoeffekt erst das dadurch vermittelte Streifen der nachfolgenden Motorradfahrerin.



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