1. Die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung sind auf den Betrieb oder die Dienststelle bezogen. Sie erstrecken sich nicht auf die Erhebung einer Disziplinarklage gegen einen bereits im Ruhestand befindlichen Beamten.
2. Die unangemessen lange Dauer eines Disziplinarverfahrens hat nur dann Einfluss auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat. Im Übrigen verbleibt es bei der zur Kompensation vorgesehenen Möglichkeit der Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs.
- A.
Problemstellung
Beamtendisziplinarrecht: Muss der Dienstherr die Schwerbehindertenvertretung auch dann vor der Erhebung einer Disziplinarklage anhören, wenn der Beamte bereits im Ruhestand ist? Ergibt sich eine solche Verpflichtung jedenfalls aus Unionsrecht? Wirkt sich die Weiterbeschäftigung eines Beamten nach Aufdeckung eines Dienstvergehens maßnahmemildernd aus? Wirkt sich die verspätete Einleitung des Disziplinarverfahrens maßnahmemildernd aus? Steht die unangemessen lange Dauer des Disziplinarverfahrens auch bei Ruhestandsbeamten der disziplinaren Höchstmaßnahme nicht entgegen?
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Rechtsstreit betrifft ein beamtenrechtliches Disziplinarklageverfahren.
Der Beklagte, bei dem seit 2008 ein Grad der Behinderung von 50 vom Hundert anerkannt ist, war zuletzt Technischer Bundesbahnamtsrat (Besoldungsgruppe A 12) und in unterschiedlichen Verwendungen bei der DB AG und der DB Netz AG tätig. Er ist seit 2014 altersbedingt im Ruhestand.
Im September 2007 erhielt ein Landeskriminalamt einen anonymen Hinweis, wonach der Beklagte seit 1996 von unterschiedlichen Firmen diverse Sach- und Geldleistungen entgegengenommen habe. Dies führte zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten und die Geschäftsführer mehrerer Firmen wegen des Verdachts des besonders schweren Falls der Bestechlichkeit. Im Zuge dieser Ermittlungen kam es ab Dezember 2008 zu mehreren Durchsuchungen. Danach stellte die DB Netz AG den Beklagten unter Ausspruch eines Hausverbots vorübergehend vom Dienst frei.
Im Juni 2009 erhielt die Leiterin der Dienststelle Einsicht in einen Teil der Akten des Ermittlungsverfahrens. Ab April 2010 übertrug die DB Netz AG unter vorheriger Aufhebung des Hausverbots dem Beklagten die Tätigkeit eines Bezirksleiters Oberbau und später die Anlagenverantwortung in der Produktionsdurchführung einer Fachlinie für einen Instandhaltungsbezirk.
Nachdem der Dienststelle seitens der Staatsanwaltschaft Einsicht in weitere Ermittlungsakten gegen den Beklagten gewährt worden war, leitete die Klägerin im Mai 2011 ein Disziplinarverfahren gegen den Beklagten ein, das sie bis zum Abschluss des Strafverfahrens vorübergehend aussetzte, und enthob den Beklagten vorläufig des Dienstes. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beklagten wegen Vorteilsannahme im November 2011 führte die Klägerin im März 2012 das Disziplinarverfahren fort und dehnte es im Juni 2013 wegen weiterer Vorwürfe aus. Im Dezember 2014 erhob die Klägerin Disziplinarklage.
Das VG hat dem Beklagten mit Urteil vom Juni 2018 das Ruhegehalt aberkannt. Das OVG hat die Berufung des Beklagten nach Beschränkung des Disziplinarverfahrens mit Urteil vom April 2022 zurückgewiesen. Das BVerwG hat die Revision des Beklagten gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
I. Ein wesentlicher Mangel des behördlichen Disziplinarverfahrens i.S.d. § 55 des Bundesdisziplinargesetzes (BDG 2001) liegt nicht vor, denn eine Verpflichtung des Dienstherrn zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung besteht nicht, wenn der schwerbehinderte Beamte bereits vor Erhebung der Disziplinarklage in den Ruhestand eingetreten ist. § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. – ebenso wie der an seine Stelle getretene § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX – erfasst nur aktive Beamtenverhältnisse und ist demnach auf Ruhestandsbeamte nicht anwendbar. Die Schwerbehindertenvertretung soll an der Willensbildung des Arbeitgebers bzw. Dienstherrn mitwirken. Die Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung setzt deshalb voraus, dass ihr Aufgabenbereich durch die vom Dienstherrn beabsichtigte Maßnahme berührt wird. Die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung bestehen darin, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb oder die Dienststelle zu fördern, ihre Interessen in dem Betrieb oder der Dienststelle zu vertreten und ihnen beratend und helfend zur Seite zu stehen (vgl. § 95 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.). Sie erstrecken sich nicht auf die Erhebung einer Disziplinarklage gegen einen sich bereits im Ruhestand befindenden Beamten.
Auch die Beteiligungsrechte der Gleichstellungsbeauftragten und des Personalrats eine Eingliederung des Beamten in die Dienststelle und demzufolge das Bestehen eines aktiven Beamtenverhältnisses voraus.
Auch Unionsrecht gebietet eine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung bei Ruhestandsbeamten vor Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens nicht. Die Richtlinie des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – RL 2000/78/EG – ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die Richtlinie erfasst zwar auch den Zeitpunkt des „Ausscheidens“ aus dem Beschäftigungsverhältnis; der Begriff „Entlassung“ beinhaltet u.a. die einseitige Beendigung jeder in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a RL 2000/78/EG genannten Erwerbstätigkeit und damit jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags. Eine „Entlassung“ scheidet jedoch aus, wenn das Dienst- oder Beamtenverhältnis bereits beendet ist.
II. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht entschieden, dass das Dienstvergehen des Beklagten mit der Aberkennung des Ruhegehalts zu ahnden ist.
1. Das von dem Beklagten vorsätzlich und schuldhaft begangene innerdienstliche Dienstvergehen rechtfertigt nach Art und Schwere die Verhängung der disziplinarischen Höchstmaßnahme.
2. Die Bemessungsentscheidung des Berufungsgerichts lässt revisionsrechtlich bedeutsame Rechtsfehler nicht erkennen.
a) Im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung hat das Berufungsgericht berücksichtigt, dass sich die Weiterbeschäftigung eines Beamten nach Aufdeckung eines Dienstvergehens grundsätzlich nicht maßnahmemildernd auswirkt. Denn die Entscheidung des Dienstherrn zur Weiterbeschäftigung kann auf Umständen beruhen, die für die vom Gericht zu bestimmende Maßnahme nicht von Bedeutung sind. Insbesondere kann sich der Dienstherr aus finanziellen Gründen für eine Weiterbeschäftigung entschieden haben, weil der Beamte auch während des laufenden Verfahrens weiterhin alimentiert wird. Auch unterliegen die Entscheidung über die Weiterbeschäftigung eines Beamten und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme – insbesondere im Hinblick auf die gerichtliche Disziplinarbefugnis – typischerweise unterschiedlichen Zuständigkeiten.
b) Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, dass die verspätete Einleitung eines Disziplinarverfahrens einen eigenständigen Milderungsgrund darstellen kann. Dies wirkt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht aus.
aa) Verzögert der Dienstvorgesetzte die Einleitung des Disziplinarverfahrens, so kann dies bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme als mildernder Umstand berücksichtigt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die verzögerte Einleitung für das weitere Fehlverhalten des Beamten ursächlich war (st.Rspr.).
bb) Die unangemessen lange Dauer des Disziplinarverfahrens rechtfertigt es nicht, von der Aberkennung des Ruhegehalts abzusehen, wenn diese Maßnahme disziplinarrechtlich geboten ist. Gegenteiliges ergibt sich weder aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK noch aus Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GRC. Auch die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen führt zu keinem anderen Ergebnis.
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist bei der Aberkennung des Ruhegehalts nicht bemessungsrelevant.
Die auf die Entfernung eines Beamten aus dem Beamtenverhältnis bezogenen Grundsätze und die Beurteilung der Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gelten in gleicher Weise, wenn – wie hier – die angemessene Disziplinarmaßnahme in der Aberkennung des Ruhegehalts besteht. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass die aus dem Verfahren herrührenden Belastungen den Ruhestandsbeamten nicht in gleicher Weise und Intensität wie einen aktiven Beamten treffen. Dies folgt daraus, dass eine Beschränkung der Dienstausübung eines Ruhestandsbeamten nicht mehr stattfinden und damit auch die mit einem Disziplinarverfahren einhergehende Wirkung jedenfalls keine innerdienstlichen Folgen zeitigen kann. Damit ist auch die „stigmatisierende Wirkung“ eines laufenden Disziplinarverfahrens im Kollegenkreis begrenzt.
Der Gesetzgeber hat der Tatsache, dass Ruhestandsbeamte nicht mehr im Dienst als Repräsentanten des Staates oder einer Gemeinde auftreten und keine die Dienstausübung betreffenden beamtenrechtlichen Pflichten verletzen können, dadurch Rechnung getragen, dass Ruhestandsbeamte nur noch wegen schwerwiegender Verstöße gegen die Rechtsordnung oder gegen im Ruhestand fortwirkende Beamtenpflichten disziplinarisch belangt werden können (vgl. § 77 Abs. 2 BBG, § 47 Abs. 2 BeamtStG, § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BeamtVG), wenn sie diese im Ruhestand begangen haben.
- C.
Kontext der Entscheidung
I. Pflicht zur unverzüglichen Einleitung des Disziplinarverfahrens
Für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gilt grundsätzlich das Legalitätsprinzip, nicht das Opportunitätsprinzip. Das heißt, der Dienstherr ist nicht frei, ob er beim Verdacht eines Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren einleitet, sondern er ist grundsätzlich zur Einleitung des Disziplinarverfahrens verpflichtet. Ausnahmen sieht das BDG bei disziplinarrechtlichen Maßnahmeverboten nach vorangegangenen Straf- oder Bußgeldverfahren sowie wegen Zeitablaufs vor (vgl. § 17 Abs. 2 BDG i.V.m. den §§ 14, 15 BDG). Die Landesdisziplinargesetze sehen z.T. außerdem in Bagatellfällen die Möglichkeit vor, von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens abzusehen (vgl. z.B. § 22 Abs. 2 Satz 3 ThürDG); insoweit gilt dann das Opportunitätsprinzip.
Der Zweck der gesetzlichen Verpflichtung zur unverzüglichen Einleitung eines Disziplinarverfahrens ist der Schutz des Beamten. Die disziplinarischen Ermittlungen sollen so früh wie möglich im Rahmen des gesetzlich geordneten Verfahrens mit seinen rechtsstaatlichen Sicherungen zugunsten des Beamten, insbesondere dem Recht auf Beweisteilhabe z.B. nach § 24 Abs. 4 BDG, geführt werden. Der Dienstvorgesetzte darf, wenn die Voraussetzungen zur Einleitung vorliegen, nicht abwarten und weiteres Belastungsmaterial sammeln.
Zwar darf der Dienstherr auch Verwaltungsermittlungen durchführen, weil ein Disziplinarverfahren wegen seiner stigmatisierenden Wirkung nicht vorschnell eingeleitet werden darf. Solche Verwaltungsermittlungen müssen aber wegen der Schutzwirkung der Verfahrensvorschriften des Disziplinarrechts in disziplinarrechtlich geführte Ermittlungen umschlagen, wenn der Dienstvorgesetzte Kenntnis von Tatsachen erlangt, aufgrund derer hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Beamte schuldhaft seine Dienstpflichten in disziplinarrechtlich relevanter Weise verletzt hat (BVerwG, Urt. v. 29.03.2012 - 2 A 11/10). Der Dienstherr kann disziplinarrechtlichen Belehrungspflichten und die damit im Zusammenhang stehenden Rechte des Beamten nicht dadurch umgehen, dass er Verwaltungsermittlungen führt. Geht er später in das Disziplinarverfahren über, sind Äußerungen des Beamten aus der Phase der Verwaltungsermittlungen nur dann verwertbar, wenn der Beamte bereits zu diesem Zeitpunkt nach den disziplinarrechtlichen Vorgaben belehrt worden war. Wegen der nur dann gegebenen Verwertbarkeit von Äußerungen des Beamten ist es zweckmäßig, bereits bei Verwaltungsermittlungen den betreffenden Beamten wie bei Einleitung eines Disziplinarverfahrens zu belehren (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2017 - 2 C 12/17 Rn. 14 ff. - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr 53).
II. „Sammelverbot“ bei wiederholt auftretenden Dienstpflichtverletzungen
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Dienstherr bei zeitlich gestreckt auftretenden Dienstpflichtverletzungen, die nach ihrer Schwere jeweils für sich genommen keine höheren Disziplinarmaßnahmen gebieten, in der Regel zunächst zeitnah zur begangenen Verletzungshandlung mit niederschwelligen disziplinaren Maßnahmen auf den Beamten einwirkt und diese bei fortgesetztem Fehlverhalten stufenweise steigert (BVerwG, Urt. v. 15.11.2018 - 2 C 60/17 Rn. 30 ff. - BVerwGE 163, 356). Das „Sammeln von Material“ gegen einen Beamten, um später in einem Disziplinarverfahren zur Höchstmaßnahme zu gelangen, ist unzulässig.
III. Überlange Dauer eines Disziplinarverfahrens und disziplinare Höchstmaßnahme
Ist ein Beamter wegen eines schwerwiegenden Dienstvergehens im öffentlichen Dienst untragbar geworden, so kann er nicht deshalb Beamter bleiben, weil das Disziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat. In diesem Fall lässt sich die Anerkennung eines Milderungsgrundes der überlangen Verfahrensdauer nicht mit dem Zweck der Disziplinarbefugnis vereinbaren. Das von den Beamten durch sein Dienstvergehen zerstörte Vertrauen kann nicht durch Zeitablauf und damit auch nicht durch eine verzögerte disziplinarrechtliche Sanktionierung wiederhergestellt werden (st.Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 28.02.2013 - 2 C 3/12 Rn. 44 ff. - BVerwGE 146, 98 u. BVerwG, Urt. v. 17.11.2017 - 2 C 25/17 Rn. 92 f. - BVerwGE 160, 370; BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 - 2 B 123/11 Rn. 6, BVerwG, Beschl. v. 12.07.2018 - 2 B 1/18 - Buchholz 235.1 § 38 BDG Nr 1 Rn. 10, BVerwG, Beschl. v. 16.08.2021 - 2 B 21/21 Rn. 21 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr 53, BVerwG, Beschl. v. 23.06.2022 - 2 B 38/21 Rn. 7 ff. - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr 56 u. BVerwG, Beschl. v. 07.08.2024 - 2 B 10/24 Rn. 11).
Nichts anderes folgt aus dem in Disziplinarverfahren anwendbaren (vgl. EGMR, Urt. v. 16.07.2009 - 8453/04 Rn. 39 - NVwZ 2010, 1015 „Bayer/Deutschland“) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die Angemessenheit ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des Beamten, der Vorgehensweise der Behörden und Gerichte sowie der Bedeutung des Verfahrens für den Beamten zu beantworten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 - 2 B 123/11 Rn. 9). Ausgehend hiervon kann die Dauer des Disziplinarverfahrens, das im Mai 2011 seinen Anfang genommen hat, trotz der erforderlichen Ermittlungen von Amts wegen und der Einvernahme einer Vielzahl von Zeugen nicht mehr als angemessen bezeichnet werden.
Ungeachtet dessen hat eine unangemessen lange Verfahrensdauer i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK jedoch nicht zur Folge, dass dem Betroffenen eine Rechtsstellung eingeräumt werden muss, die im Widerspruch zu dem entscheidungserheblichen innerstaatlichen materiellen Recht steht. Vielmehr kann die unangemessene Verfahrensdauer für den Ausgang des zu lange dauernden Rechtsstreits nur dann zugunsten des Betroffenen berücksichtigt werden, wenn das innerstaatliche Recht dies vorsieht oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der einschlägigen materiell-rechtlichen Bestimmungen zu ermitteln (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.05.2012 - 2 B 3/12 Rn. 12, BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 - 2 B 123/11 Rn. 10 und BVerwG, Beschl. v. 17.06.2013 - 2 B 27/12 Rn. 6).
Der Bundesgesetzgeber hat die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wegen unangemessen langer Verfahrensdauer in den §§ 198 ff. GVG eigenständig geregelt. Diese Bestimmungen gelten nach § 173 Satz 2 VwGO, § 3 BDG auch für verwaltungsgerichtliche Verfahren (vgl. die Art. 1 und 8 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011, BGBl I 2011, 2302). Der Bundesgesetzgeber hat aber davon abgesehen, einen inhaltlichen Bezug zwischen der unangemessenen Dauer des Verfahrens und den geltend gemachten materiell-rechtlichen Positionen herzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.02.2013 - 2 C 3/12 Rn. 51 - BVerwGE 146, 98, BVerwG, Beschl. v. 16.05.2012 - 2 B 3/12 Rn. 14, BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 - 2 B 123/11 Rn. 12 u. BVerwG, Beschl. v. 23.06.2022 - 2 B 38/21 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr 56 Rn. 7).
Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der die Möglichkeit der Geltendmachung einer finanziellen Wiedergutmachung als angemessene Verfahrensgestaltung zur Gewährung einer gerechten Entschädigung anerkannt (vgl. EGMR, Urt. v. 29.05.2012 - 53126/07 Rn. 40 - NVwZ 2013, 47 „Taron/Deutschland“ und EGMR, Urt. v. 06.10.2016 - 23280/08 u.a. - NJW 2017, 3699 „Moog/Deutschland“ Rn. 100) und vor Inkrafttreten der §§ 198 ff. GVG im Übrigen selbst nur eine finanzielle Entschädigung für die immateriellen Schäden aus der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zugesprochen hat (vgl. EGMR, Urt. v. 16.07.2009 - 8453/04 Rn. 62 - NVwZ 2010, 1015 „Bayer/Deutschland“).
- D.
Auswirkungen für die Praxis
Der Dienstherr muss die Schwerbehindertenvertretung vor der Erhebung einer Disziplinarklage nicht anhören, wenn der Beamte bereits im Ruhestand ist; die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung sind auf die schwerbehinderten Menschen im Betrieb oder der Dienststelle bezogen. Eine solche Verpflichtung folgt auch nicht aus Unionsrecht; eine „Entlassung“ i.S.d. RL 2000/78/EG liegt nicht vor, wenn das Dienst- oder Arbeitsverhältnis bereits beendet ist. Die Weiterbeschäftigung eines Beamten nach Aufdeckung eines Dienstvergehens wirkt sich grundsätzlich nicht maßnahmemildernd aus. Die verspätete Einleitung des Disziplinarverfahrens wirkt sich maßnahmemildernd aus, sofern sie für das weitere Fehlverhalten des Beamten (mit)ursächlich war. Die unangemessen lange Dauer des Disziplinarverfahrens steht auch bei Ruhestandsbeamten der disziplinaren Höchstmaßnahme – d.h. der Aberkennung des Ruhegehalts – nicht entgegen.