Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Anno 1971 hatte die hiesige Erblasserin mit ihrem Ehemann ein notariell beurkundetes gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben einsetzten und zudem bestimmten, dass, „sollte eines der gemeinsamen Kinder nach dem Tode des Erstversterbenden den Pflichtteil verlangen, es so auch nach dem Tode des Letztversterbenden auf den Pflichtteil gesetzt sein werde“. Aus der Ehe gingen zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, hervor.
1976 verstarb der Ehemann. 1981 veräußerte die Erblasserin den ihr nach dessen Tod angefallenen Grundbesitz für insgesamt 282.000 DM. Unstreitig erhielt die Tochter hiervon 110.000 DM, die hiervon ein Haus baute. Ihrerseits erwarb die Erblasserin ein Hausgrundstück, welches sie von 1983 bis zu ihrem Tode im Jahr 2022 gemeinsam mit ihrem Sohn bewohnte.
1984 verfasste die Erblasserin sodann ein privatschriftliches Testament, in dem sie zunächst ausführte, dass sie ihrer Tochter besagte 110.000 DM zwecks Hausbaus zugewandt habe. Dem habe eine Vereinbarung zugrunde gelegen, wonach damit alle Ansprüche der Tochter hinsichtlich des Nachlasses des verstorbenen Ehemanns abgegolten seien. Sodann bestimmte die Erblasserin, dass als Ausgleich für die lebzeitige Zuwendung an die Tochter das Hausgrundstück der Erblasserin allein dem Sohn anfallen solle. Hinsichtlich des übrigen Vermögens setzte sie Tochter und Sohn A. zu Miterben ein. Dem Testament lag eine „Erklärung!“ der Tochter vom 13.10.1983 bei, in der sie bestätigte, dass sie keinerlei Anspruch auf das gegenständliche Hausgrundstück habe, da sie ihr Erbteil im Jahre 1981 erhalten habe.
Nach dem Tod der Erblasserin beantragte der Sohn einen Alleinerbschein, da die Tochter nach dem Tod des Vaters den Pflichtteil geltend gemacht habe. Dem trat die Tochter entgegen: Die empfangenen 110.000 DM seien keine Pflichtteilszahlung gewesen, sondern ihr von der Erblasserin freiwillig zugewandt worden, zumal dem Sohn vorher bereits ein Studium finanziert worden sei und der Sohn zudem das von der Erblasserin erworbene Hausgrundstück erhalten sollte und dieses ohnehin fast 40 Jahre ohne Gegenleistung mitbewohnt habe.
Das Nachlassgericht wies den Erbscheinsantrag des Sohnes zurück, dessen Beschwerde blieb auch beim OLG Braunschweig erfolglos.
Das OLG Braunschweig stellte zunächst fest, dass sich die Erbfolge allein nach dem 1971 errichteten gemeinschaftlichen Testament der Eheleute richte. Die dort angeordnete Schlusserbeneinsetzung der beiden Kinder zu gleichen Teilen sei mit dem Tod des Ehemanns bindend geworden (§ 2271 Abs. 2 Satz 1 BGB) und das privatschriftliche Testament der Erblasserin aus 1984 damit für die Erbfolge unbeachtlich.
Weiter war das OLG Braunschweig wie bereits das Nachlassgericht Göttingen der Ansicht, dass die Tochter ihren Pflichtteil nach Ableben des Vaters nicht „verlangt“ habe im Sinne der von den Eheleuten in ihrem Testament angeordneten Pflichtteilsstrafklausel.
Die hier verwendete Standardklausel werde im Regelfall dahingehend verstanden, dass der Schlusserbe in objektiver Hinsicht den Pflichtteil ausdrücklich und ernsthaft verlangen müsse, und zwar in Kenntnis der Verwirkungsklausel (OLG Köln, Beschl. v. 27.09.2018 - 2 Wx 314/18 - FamRZ 2019, 483; Weidlich in: Grüneberg, BGB, 84. Aufl. 2025, § 2269 Rn. 14), auch wenn es im Einzelfall auch mal anders liegen mag (vgl. Musielak in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2025, § 2269 Rn. 65 m.w.N.).
Grundsätzlich liege es in den Händen der Testierenden festzulegen, welches Verhalten im Einzelfall von einer Pflichtteilsstrafklausel erfasst sein soll. Sei der Wortlaut der Klausel nicht eindeutig, sei der Wille der Testierenden durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH, Urt. v. 24.06.2009 - IV ZR 202/07 - FamRZ 2009, 1486 m. Anm. Hoffmann, jurisPR-FamR 9/2010 Anm. 5; eingehend Kaup, ErbR 2024, 336).
Typischerweise könne eine Pflichtteilsstrafklausel mehreren Zwecken dienen: Insbesondere soll der Nachlass dem längerlebenden Ehegatte ungeschmälert verbleiben, um ihn bestmöglich zu versorgen und vor finanziellen Schwierigkeiten durch Pflichtteilsansprüche zu bewahren (OLG Köln, Beschl. v. 27.09.2018 - 2 Wx 314/18 - FamRZ 2019, 483; KG, Beschl. v. 16.11.2018 - 6 W 54/18 - FamRZ 2019, 1105, 1106 m. Anm. Linnartz, jurisPR-FamR 13/2019 Anm. 2). Weiterhin könne es den Ehegatten auch darum gehen, den Längerlebenden vor den nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch persönlichen Belastungen zu schützen, die mit der Geltendmachung des Pflichtteils durch einen Abkömmling verbunden sein können (OLG Frankfurt, Beschl. v. 01.02.2022 - 21 W 182/21 - FamRZ 2022, 1319, 1320; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.07.2011 - 3 Wx 124/11 - FamRZ 2012, 331, 332; OLG München, Beschl. v. 29.01.2008 - 31 Wx 68/07 - FamRZ 2008, 1118, 1120). Schließlich mag eine Pflichtteilsstrafklausel auch die Wahrung der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Schlusserben im Blick haben (KG, Beschl. v. 06.04.2018 - 6 W 13/18 - FamRZ 2018, 1700, 1702; OLG München, Beschl. v. 29.01.2008 - 31 Wx 68/07 - FamRZ 2008, 1118, 1120).
Soweit kein anderweitiger Erblasserwille feststellbar ist, sind alle drei vorgenannten Zweckrichtungen sowohl bei der Auslegung der jeweiligen Pflichtteilsstrafklausel als auch der entsprechenden Subsumtion zu berücksichtigen.
In diesem Lichte verneinte das OLG Braunschweig ein entsprechendes „Verlangen“ der Tochter, da diese zwar unstreitig 110.000 DM von ihrer Mutter erhalten habe – allerdings eben nicht aufgrund eines ernsthaften Begehrens als Pflichtteilsberechtigte, sondern als freiwillige Unterstützung seitens der Mutter. Nicht zuletzt aus den Ausführungen der Mutter in ihrem späteren zwar unwirksamen, aber als Erkenntnisquelle nützlichen Einzeltestament habe sich zudem ergeben, dass sie hierdurch nicht in finanzielle Bedrängnis geraten war und auch keine Störung des Familienfriedens bestand. Allenfalls mag durch die Zuwendung und die Unwirksamkeit des späteren Einzeltestaments die Verteilungsgerechtigkeit unter den Schlusserben berührt sein; dies jedoch nicht wegen eines illoyalen Verhaltens der Tochter, sondern allenfalls infolge einer möglicherweise missglückten Vereinbarung hierzu.
Kontext der Entscheidung
Wenn eine Pflichtteilsstrafklausel lediglich auf das „Verlangen“ des Pflichtteils abstellt, setzt dies keine gerichtliche Geltendmachung voraus; ebenso ist eine tatsächliche Auszahlung nicht erforderlich (OLG Köln, Beschl. v. 27.09.2018 - 2 Wx 314/18 - FamRZ 2019, 483, 484; OLG Frankfurt, Beschl. v. 01.02.2022 - 21 W 182/21 - FamRZ 2022, 1319, 1320; ferner Musielak in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2025, § 2269 Rn. 65 m.w.N.).
Umgekehrt ist das – ggf. sogar gerichtliche – Begehren eines Nachlassverzeichnisses als solches noch kein Verlangen des Pflichtteils: Mit dem Auskunftsanspruch gemäß § 2314 BGB versetzt sich der Pflichtteilsberechtigte erst in die Lage zu entscheiden, ob er den Pflichtteilsanspruch nach § 2303 BGB geltend machen möchte (OLG Frankfurt, Beschl. v. 01.02.2022 - 21 W 182/21 - FamRZ 2022, 1319, 1320). Allerdings sollte der Pflichtteilsberechtigte darauf achten, sein Begehren jedenfalls zunächst ausschließlich auf Auskunft und ggf. Erteilung eines Nachlassverzeichnisses zu begrenzen.
Gleichbedeutend mit „Verlangen“ sind die Begriffe des „Forderns“ oder der „Geltendmachung“ (OLG Frankfurt, Beschl. v. 01.02.2022 - 21 W 182/21 - FamRZ 2022, 1319, 1320; OLG Rostock, Beschl. v. 11.12.2014 - 3 W 138/13 - NJW-RR 2015, 776).
Auswirkungen für die Praxis
Pflichtteilsstrafklauseln sind in vielerlei Variationen denkbar (eingehend hierzu Reymann in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 2269 Rn. 80 ff. m.w.N.). Welche Gestaltung im Einzelfall vorzugswürdig ist, hängt von den jeweiligen Umständen ab.
Eine wichtige Weichenstellung liegt darin, ob nur auf das „Verlangen“ oder zusätzlich auch auf die tatsächliche Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs abgestellt wird (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 21.02.2023 - 21 W 104/22 - FamRZ 2024, 402). Insoweit kommt es darauf an, ob die Erblasser bereits die persönliche Belastung des Längerlebenden durch Konfrontation mit Pflichtteilsansprüchen sanktionieren wollen – oder ob sie primär die Verteilungsgerechtigkeit unter den Schlusserben im Blick haben.
Sinnvollerweise sollte die Verwirklichung der Pflichtteilsstrafklausel in jedem Fall von einem „Verlangen gegen den Willen des Längerlebenden“ abhängig gemacht werden. Dies kann dazu beitragen, späteren Rechtsstreit zu vermeiden. Insbesondere kann die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen im Einzelfall steuerlich überaus sinnvoll sein, da die Schlusserben so auch auf Ableben des Erstversterbenden die erbschaftssteuerlichen Freibeträge in Anspruch nehmen können.
Auf Rechtsfolgenseite stehen automatischen Ausschlussklauseln bloße Änderungsrechte des Längerlebenden gegenüber. Letztere bieten den Vorteil größtmöglicher Flexibilität, laufen aber ins Leere, wenn der Längerlebende namentlich wegen Testierunfähigkeit von der ihm eingeräumten Abänderungsbefugnis keinen Gebrauch mehr machen kann.