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Anmerkung zu:BSG 4. Senat, Urteil vom 11.09.2024 - B 4 AS 12/23 R
Autor:Prof. Dr. Daniela Evrim Öndül, Hochschulprofessorin a.D.
Erscheinungsdatum:24.07.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 30 SGB 1, § 37 SGB 1, § 20a AufenthG 2004, § 23 SGB 12, § 4a FreizügG/EU, § 2 FreizügG/EU, § 19 SGB 2, § 7 SGB 2, § 164 SGG, § 128 SGG
Fundstelle:jurisPR-SozR 15/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Öndül, jurisPR-SozR 15/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erfordert keinen rechtmäßigen Aufenthalt



Orientierungssatz zur Anmerkung

Für die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II ist ein rechtmäßiger Aufenthalt nicht ausschlaggebend. Die für die Feststellung eines gewöhnlichen Aufenthalts erforderliche Prognose hat unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen. Das gilt auch dann, wenn der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln ist.



A.
Problemstellung
Gestritten wurde um die Gewährung von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Vorliegend waren die Ansprüche davon abhängig, ob zugunsten der Kläger die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II zu berücksichtigen war. Danach erhalten Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörige abweichend von den in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II formulierten Leistungsausschlüssen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin und ihr 2018 geborener Sohn sind polnische Staatsangehörige. Vom 20.04.2015 bis zum 06.09.2016 und ab dem 07.07.2017 war die Klägerin in Deutschland behördlich gemeldet. Bis Mitte 2017, dem Beginn ihrer Schwangerschaft, war die Klägerin als Prostituierte tätig, hatte die Tätigkeit aber nicht angegeben. Mit dem Beklagten streitet sich die Klägerin vorliegend um die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für sich und ihren Sohn in der Zeit vom 20.04.2020 bis zum 30.11.2020.
Den Leistungsantrag der Klägerin lehnte der Beklagte unter Hinweis auf einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung) ab. Die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II fände keine Anwendung, da die Regelung nicht nur die einmalige Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde voraussetze, sondern ein durchgehendes Gemeldetsein im Bundesgebiet für mindestens fünf Jahre. Da die Klägerin ihre Tätigkeit als Prostituierte bis zum Schluss nicht ordnungsgemäß angegeben habe, sei außerdem der Wille zum dauerhaften Verweilen nicht mit hinreichender Sicherheit geklärt. Das Erbringen von Dienstleistungen ohne gleichzeitige Begründung einer Niederlassung in dem Staat, in welchem die Dienstleistung erbracht werde, vermöge keinen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II zu begründen. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Sowohl das SG Köln (Urt. v. 21.12.2020 - S 40 AS 1386/20) als auch das LSG Essen (Urt. v. 14.06.2023 - L 12 AS 245/21) gaben der Klägerin dagegen recht.
Das BSG hat schließlich auch die Revision des Beklagten zurückgewiesen.
Die Klägerin erfülle dem Grunde nach die Anspruchsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld II nach den §§ 19 Satz 1, 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung). Sie sei auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen ausgeschlossen. Dabei ließ das BSG dahinstehen, ob die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss überhaupt vorlagen. Es greife jedenfalls die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, weil nachgewiesen werden konnte, dass die Klägerin seit mindestens fünf Jahren ihren ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, der gemäß § 37 Satz 1 SGB I auch im SGB II anwendbar sei, habe jemand einen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Die insoweit erforderliche Prognose habe unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen. Die objektive Beweislast trage derjenige, der die Leistungen begehre. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln sei. Dagegen sei es für den gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht ausschlaggebend, ob die betroffene Person sich auch auf ein materielles Aufenthaltsrecht berufen könne. Zwar könne die rechtliche Position des Betroffenen für die Beurteilung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliege, von Bedeutung sein, wenn der Aufenthaltsstatus im Rahmen der zu treffenden Prognose ein länger dauerndes Verweilen ausschließe. Hierfür gebe es aber vorliegend keine Anhaltspunkte.
Im vorliegenden Fall sprechen die durch das Landessozialgericht festgestellten tatsächlichen Umstände wie „Kundenkontakte“ der Klägerin, persönlich übergebene Behördenschreiben, eine Zahlungsaufforderung wegen Beförderungserschleichung und Quittungen über Mietzahlungen dafür, dass die Klägerin sich seit der Anmeldung am 20.04.2015 hauptsächlich in Deutschland aufgehalten habe und auch hier zukunftsoffen ihren Lebensmittelpunkt haben wollte.


C.
Kontext der Entscheidung
Von den Leistungen nach dem SGB II sind unter anderem Ausländerinnen und Ausländer ausgeschlossen, die unter § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, also diejenigen, die entweder kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Seit dem 01.06.2024 fallen auch die Ausbildungs- oder Studienplatzsuchende und Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20a AufenthG unter den Leistungsausschluss.
Die Rückausnahme in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II wurde mit dem Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe (BGBl I, 2016 Nr. 65) eingefügt. Nach mindestens fünf Jahren des gewöhnlichen Aufenthalts erhalten die unter § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallenden Personen im Wege einer Rückausnahme Leistungen nach dem SGB II. Der Neuregelung waren Urteile des BSG vorausgegangen, die den gesetzlich von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Personengruppen bei einem „verfestigtem Aufenthalt“ Hilfe zum Lebensunterhalt im Ermessenswege nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zugesprochen hatten (u.a. BSG v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R). Während das BSG einen verfestigten Aufenthalt bereits nach sechs Monaten angenommen hatte, orientierte sich der Gesetzgeber aber an der Entstehung des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU und legte insoweit eine Frist von fünf Jahren fest. Statt eines rechtmäßigen Aufenthalts wie in § 4a FreizügG/EU ist in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II aber lediglich ein gewöhnlicher Aufenthalt gefordert.
Zur Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II hat das BSG während des vorliegenden Verfahrens schon in mehreren Verfahren entschieden. So hat es etwa klargestellt, dass § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II zwar einen im Wesentlichen ununterbrochenen Aufenthalt voraussetzt, kurzfristige Unterbrechungen des Inlandsaufenthalts, z.B. aufgrund eines Heimatbesuchs, sah das Gericht aber als unschädlich an (BSG, Urt. v. 29.03.2022 - B 4 AS 2/21 R). Es entschied zudem, dass für die Fünfjahresfrist in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nur diejenigen Zeiten beachtlich sind, die nach einer behördlichen Meldung liegen. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II setze aber keine durchgehende Anmeldung voraus, wenn seit der ersten Anmeldung stets ein gewöhnlicher Aufenthalt gegeben war (BSG, Urt. v. 20.09.2023 - B 4 AS 8/22 R). Diese Auffassungen hat das vorliegende Urteil bestätigt.
Darüber hinaus hat es nun klargestellt, dass es für einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht ausschlaggebend auf einen rechtmäßigen Aufenthalt ankommt. Vielmehr habe die insoweit erforderliche Prognose unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Im Zusammenspiel mit den weiteren oben zitierten Urteilen des BSG dürften die wesentlichen Fragen zur Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II geklärt sein. In der Praxis ist das Verhältnis der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II zum Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU zu beachten.
Hat die betroffene Person ein Daueraufenthaltsrecht erworben, wofür ein fünfjähriger, aber rechtmäßiger Aufenthalt erforderlich ist, ist sie vom Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ohnehin nicht betroffen. Und nach Entstehen des Daueraufenthaltsrechts ist es unerheblich, ob die zuvor vorausgesetzten Freizügigkeitsvoraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU weiterhin vorliegen. Ausschlüsse vom Sozialleistungszugang sind nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nicht mehr anwendbar.
Auch vor dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gelten jedenfalls die Leistungsausschlüsse im SGB II nicht, wenn ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt nach einer behördlichen Meldung nachgewiesen werden kann. Die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II ist allerdings nicht anwendbar, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bestehenden Freizügigkeitsrechts festgestellt hat (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Auf die mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnende Frist für den gewöhnlichen Aufenthalt werden außerdem Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II).


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
In Hinblick auf den Anspruch des minderjährigen Sohnes der Klägerin verweist das BSG auf den Unterschied zwischen zwei Gruppen leistungsberechtigter Personen. In erster Linie betrifft das SGB II die Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (vgl. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die zweite Gruppe bilden die nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten (vgl. § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Sie erhalten Leistungen, wenn sie mit mindestens einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben. Beide Anspruchsgrundlagen stehen nebeneinander, so dass nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht in eigener Person die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen müssen und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht für nichterwerbsfähige Personen gilt (vgl. auch BSG, Urt. v. 17.07.2024 - B 7 AS 3/23 R).
Ein weiterer Schwerpunkt der Entscheidung lag auf der Beweiswürdigung bzw. den Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge (§ 164 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Urteil verweist darauf, dass Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen des Aufenthalts der Klägerin als tatrichterliche Feststellung für den Senat bindend seien. Die darauf aufbauende rechtliche Beurteilung, dass die betroffene Person auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe, unterliege dagegen der Beurteilung des Revisionsgerichts. Die Prognose sei rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht die zugrunde zu legenden Tatsachen nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend würdige bzw. wenn die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht. Werde eine Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG gerügt, müsse konkret dargelegt werden, dass gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es genüge nicht, lediglich das Ergebnis der Beweiswürdigung zu rügen oder die eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Landessozialgerichts zu setzen.



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