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Anmerkung zu:BFH 6. Senat, Urteil vom 10.04.2025 - VI R 29/22
Autor:Dr. Stephan Geserich, RiBFH
Erscheinungsdatum:18.08.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 118 FGO, § 9a EStG, § 50d EStG
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 33/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Geserich, jurisPR-SteuerR 33/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Steuerfreistellung des niederländischen Arbeitslohns im Ansässigkeitsstaat Deutschland auch bei Anwendung der niederländischen 30%-Regelung



Leitsatz

Der für eine Tätigkeit im Königreich der Niederlande gezahlte Arbeitslohn eines in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Arbeitnehmers ist auch insoweit nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 unter Anwendung des Progressionsvorbehalts von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, als der Arbeitnehmer den Arbeitslohn aufgrund der sogenannten 30 %-Regelung steuerfrei erhalten hat.



A.
Problemstellung
Streitig ist, wie der in den Niederlanden nach Anwendung der 30%-Regelung von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns des Klägers im Jahr 2019 (Streitjahr) einkommensteuer- und abkommensrechtlich zu behandeln ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger wohnte im Streitjahr ausschließlich in Deutschland. Beschäftigt war er bei einem niederländischen Arbeitgeber, der für ihn die sogenannte 30%-Regelung in Anspruch nahm und ihm 30% seines Arbeitslohns steuerfrei auszahlte. Dies erfolgte vor dem Hintergrund, dass niederländische Arbeitgeber nach Art. 31a Nr. 2 Buchst. e des niederländischen Lohnsteuergesetzes (Wet op den loonbelasting 1964) i.V.m. Art. 10ea der niederländischen Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (Uitvoeringsbesluit loonbelasting 1965) i.V.m. Paragraf 17.4 des niederländischen Lohnsteuerhandbuchs 2019 (Handboek Loonheffingen 2019) Arbeitnehmern, die eine Tätigkeit bei einem niederländischen Arbeitgeber aufnehmen und zwecks Ausübung ihrer Tätigkeit in die Niederlande umziehen oder – wie vorliegend – täglich vom Ausland in die Niederlande reisen, unter bestimmten weiteren – vorliegend nicht streitigen – Voraussetzungen durch den Aufenthalt in den Niederlanden entstehende Mehrkosten (sogenannte extraterritoriale Kosten) steuerfrei erstatten können. Zu diesen sogenannten extraterritorialen Kosten zählen gemäß Paragraf 17.4.3 des Handboek Loonheffingen 2019 unter anderem Mehrkosten aufgrund eines höheren Preisniveaus in den Niederlanden, Kosten für eine Erkundungsreise durch die Niederlande (zum Beispiel zur Wohnungs- oder Schulsuche), Verwaltungskosten durch Ummeldungen oder die Beantragung eines Visums oder einer Aufenthaltsgenehmigung sowie Kosten für Sprachkurse, für eine doppelte Haushaltsführung oder für Familienheimfahrten. Dabei räumt das niederländische Lohnsteuerrecht dem Arbeitgeber im Hinblick auf die steuerfreie Erstattung dieser Kosten ein Wahlrecht ein. Dieser kann dem Arbeitnehmer entweder die tatsächlich entstandenen und nachgewiesenen extraterritorialen Kosten erstatten oder dem Arbeitnehmer (ohne Nachweis der tatsächlich entstandenen Kosten) nach positiver Verbescheidung durch die niederländischen Finanzbehörden pauschal 30% des (niederländischen) Arbeitslohns (inklusive etwaiger steuerfrei ausgezahlter anderweitiger Erstattungen) steuerfrei auszahlen (sogenannte 30%-Regelung).
Das FA setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr abweichend von den Angaben des Klägers in der Einkommensteuererklärung fest und erhöhte die in Deutschland steuerbaren Einkünfte des Klägers um den nach der niederländischen 30%-Regelung steuerfrei belassenen Arbeitslohn. Denn der von den Niederlanden von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns sei – weil dort tatsächlich nicht besteuert – dem in Deutschland zu versteuernden Arbeitslohn nach § 50d Abs. 9 Satz 4 EStG hinzuzurechnen und nicht lediglich im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das FG ab (FG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2022 - 13 K 2867/20 E - EFG 2023, 92). Auf die Revision des Klägers – das BMF war dem Rechtsstreit beigetreten – hob der BFH die Vorentscheidung auf und gab der Klage statt. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der in den Niederlanden nach Anwendung der 30%-Regelung von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns des Klägers bei der Ermittlung der deutschen Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen sei. Vielmehr sei der für eine Tätigkeit im Königreich der Niederlande gezahlte Arbeitslohn eines in Deutschland ansässigen Arbeitnehmers auch insoweit nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 unter Anwendung des Progressionsvorbehalts von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, als der Arbeitnehmer den Arbeitslohn aufgrund der sogenannten 30%-Regelung steuerfrei erhalten habe.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Niederlande 2012/2016 können Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbstständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat (vorliegend Deutschland) besteuert werden, es sei denn, die Arbeit wird im anderen Vertragsstaat ausgeübt (vorliegend Niederlande). Wird die Arbeit dort ausgeübt, so können die dafür bezogenen Vergütungen auch im anderen Staat (vorliegend in den Niederlanden) besteuert werden. Danach steht das Besteuerungsrecht betreffend die Einkünfte des Klägers aus unselbstständiger Arbeit nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Niederlande 2012/2016 neben Deutschland auch den Niederlanden soweit zu, als der Kläger seine Tätigkeit dort ausgeübt hat. Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung werden nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 bei einer in Deutschland ansässigen Person die niederländischen Einkünfte von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen und insoweit lediglich in den Progressionsvorbehalt gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. d DBA-Niederlande 2012/2016 i.V.m. § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG einbezogen. Dies allerdings nur dann, wenn diese Einkünfte tatsächlich in den Niederlanden besteuert werden und – wie vorliegend – nicht unter Art. 22 Abs. 1 Buchst. b DBA-Niederlande 2012/2016 fallen.
II. Eine tatsächliche Besteuerung im anderen Vertragsstaat liegt vor, wenn dieser die betreffenden Einkünfte in die steuerliche Bemessungsgrundlage einbezieht. Eine Steuer(zahl)last muss hierdurch nicht entstehen. Deshalb liegt eine tatsächliche Besteuerung auch vor, soweit sich die Einkünfte steuerlich nicht auswirken, weil zum Beispiel Freibeträge gewährt oder Verluste verrechnet werden (vgl. BFH, Urt. v. 12.04.2023 - I R 44/22 (I R 49/19, I R 17/16) - BStBl II 2023, 974; BMF v. 20.06.2013 - BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 a). Entsprechendes gilt, wenn ausländische Vorschriften zur Einkünfteermittlung (vgl. BMF v. 20.06.2013 - BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 a) oder die steuerfreie Erstattung von Aufwendungen wie eine partielle Nichtbesteuerung wirken.
III. Hingegen fehlt es an einer tatsächlichen Besteuerung i.S.d. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 unter anderem, falls Einkünfte in den Niederlanden aufgrund einer sachlichen oder persönlichen Steuerbefreiung nicht besteuert werden oder dort eine Besteuerung nicht durchgeführt wurde (BT-Drs. 17/10752, S. 59). Von einer tatsächlichen Nichtbesteuerung im Anwendungsbereich eines Doppelbesteuerungsabkommens ist grundsätzlich auszugehen, soweit der Staat, dem das Besteuerungsrecht nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (auch) zugewiesen ist (hier die Niederlande), nach nationalem Recht Einkünfte nicht besteuern kann, insbesondere weil diese nicht steuerbar beziehungsweise sachlich steuerbefreit sind oder der Steuerpflichtige persönlich steuerbefreit ist, oder aus anderen Gründen eine tatsächliche Besteuerung unterbleibt, beispielsweise aufgrund Verzichts durch Erlass der Steuer oder durch Unkenntnis der durch den Steuerpflichtigen erzielten Einkünfte (vgl. BMF v. 20.06.2013 - BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 b).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Denn nach dem vom FG für den BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend festgestellten niederländischen Recht ist der niederländische Arbeitslohn des Klägers, soweit den Niederlanden das Besteuerungsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Satz 2 DBA-Niederlande 2012/2016 zustand, i.S.v. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 in den Niederlanden in vollem Umfang tatsächlich besteuert worden. Dies gilt auch, soweit der Kläger seinen niederländischen Arbeitslohn aufgrund der 30%-Regelung steuerfrei erhalten hat. Denn die 30%-Regelung gründet auf der Annahme, dass Arbeitnehmern, die eine Tätigkeit bei einem niederländischen Arbeitgeber aufnehmen und zwecks Ausübung ihrer Tätigkeit in die Niederlande umziehen oder – wie im Streitfall – täglich vom Ausland in die Niederlande reisen, zusätzliche Kosten entstehen, weil die Lebenshaltungskosten in den Niederlanden höher als im Heimatland sind. Soweit es sich hierbei um sogenannte extraterritoriale Kosten handelt, kann der Arbeitgeber diese Mehrkosten dem Arbeitnehmer entweder gegen Einzelnachweis steuerfrei erstatten oder wie im Streitfall stattdessen ohne Nachweis pauschal abgelten und 30% des Arbeitslohns steuerfrei auszahlen. Damit handelt es sich bei der 30%-Regelung, anders als das FG meint, nicht um eine persönliche oder sachliche Steuerbefreiung, die eine tatsächliche Nichtbesteuerung bewirkt, sondern um die pauschalierte Erstattung von steuererheblichen Aufwendungen des Steuerpflichtigen. Von einer Nichtbesteuerung i.S.v. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 kann aufgrund einer solchen aufwandsentlastenden Steuerfreistellung wie bei Freibeträgen und steuermindernden Vorschriften im Rahmen der Einkommensermittlung daher keine Rede sein. Es macht auch keinen Unterschied, ob im Rahmen der Einkommensermittlung die steuerliche Bemessungsgrundlage um steuererhebliche Aufwendungen des Arbeitnehmers zu vermindern oder um steuerfreie Arbeitgebererstattungen nicht zu erhöhen ist. Denn die dahin gehende Unterscheidung ist lediglich von rechtstechnischer Natur. Dass die extraterritorialen Kosten im Rahmen der 30%-Regelung nicht in tatsächlicher und nachgewiesener Höhe, sondern pauschal steuerfrei gestellt werden, macht in der Sache ebenfalls keinen Unterschied und führt deshalb zu keiner tatsächlichen Nichtbesteuerung i.S.v. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016. Denn auch insoweit bleibt die Steuerfreistellung aufwandsbezogen. Schließlich ist für die Frage, ob die 30%-Regelung eine Nichtbesteuerung i.S.v. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 bewirkt, nicht maßgeblich, ob das deutsche Steuerrecht einen solchen oder vergleichbaren „Abzugs- oder Erstattungstatbestand“ (von berufsbezogenen Lebenshaltungskosten) kennt oder ob im Vergleich mit inländischen Steuerregelungen (z.B. dem Arbeitnehmer-Pauschbetrag nach § 9a Satz 1 Nr. 1a EStG) die 30%-Regelung den vermuteten Aufwand vermeintlich „überkompensiert“. Ebenso wenig ist hierfür von Bedeutung, nach welchen rechtstechnischen Vorgaben die aufwandsbezogene Steuerfreistellung erfolgt. Insbesondere kommt es insoweit nicht darauf an, ob steuererheblicher Aufwand und steuerfreie Erstattung bereits als Vorwegabzug im Lohnsteuerabzugsverfahren oder erst nachträglich im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung von der ausländischen Steuerrechtsordnung in den Blick genommen und verfahrensrechtlich abgebildet werden. Alles andere wäre ein „Eingriff“ in die Steuerhoheit des anderen Vertragsstaats. Wenn das Besteuerungsrecht (auch) diesem – wie hier den Niederlanden nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Niederlande 2012/2016 – zugewiesen ist, ist es dessen Angelegenheit, wie er den Steuerzugriff im Einzelnen ausgestaltet.
Eine Auseinandersetzung mit der Frage, in welchem Umfang der „neue“ – durch das AmtsHRLÄndUG vom 20.12.2016 (BGBl I 2016, 3000) eingefügte – § 50d Abs. 9 Satz 4 EStG einer Freistellung unversteuerter Einkunftsteile entgegensteht und diese zu bestimmen sind, war daher im Streitfall nicht angezeigt. Die Finanzbehörden wollen im Rahmen der Arbeitnehmerbesteuerung DBA-Rückfallklauseln, nach denen „Einkünfte“ aufgrund ihrer Behandlung im anderen Vertragsstaat nicht von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen werden, stets auch auf nach Euro und Cent „atomisierte“ Teile von Einkünften anwenden. Sie berufen sich hierfür auf Tz. 56.1 OECD-MK zu Art. 23 Abs. 4 OECD-MA, der im Rahmen der Einschränkung der Freistellungsmethode für die Auslegung des Abkommensbegriffs „Einkünfte“ („Income“) ausdrücklich auf einzelne Einkunftspositionen und Vermögensgegenstände („an item of income or capital“) abstellt. Für Veranlagungszeiträume ab dem VZ 2017 soll sich dies auch aus § 50d Abs. 9 Satz 4 EStG ergeben (BMF vom 12.12.2023 - BStBl I 2023, 2179 Tz. 420). Beispielhaft wird hierfür auf die niederländische 30%-Regelung Bezug genommen (BMF vom 12.12.2023 - BStBl I 2023, 2179 Tz. 421). Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit sich die Finanzbehörden von dieser Auffassung verabschieden werden. Aufgrund der Besprechungsentscheidung erscheint zumindest eine „Neubeurteilung“ der 30%-Regelung angezeigt, zumal diese nach derzeitigem Stand (leicht modifiziert, insbesondere auf 73.800 Euro höchstbetragsbegrenzt) auch über das Jahr 2025 hinaus fort gilt (https://www.belastingdienst.nl/wps/wcm/connect/de/privatpersonen/inhalt/ich-komme-zum-arbeiten-in-die-niederlande-30-prozent-regelung-beantragen; zuletzt abgerufen am 11.08.2025).



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