1. Der in zweiter Reihe nicht verkehrsbedingt Haltende hat beim Wiederanfahren zwar die Anforderungen und gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 10 Satz 1 StVO nicht in unmittelbarer Anwendung der Norm einzuhalten. Deren Beachtung obliegt ihm wegen der vergleichbaren Sachlage jedoch in gleicher Weise im Rahmen der allgemeinen Sorgfaltspflicht nach § 1 Abs. 2 StVO.
2. Das Halten auf einem Bussonderfahrstreifen ist (auch in zweiter Reihe) verboten.
3. Der den Bussonderfahrstreifen an der dafür vorgesehenen Stelle Querende muss den unberechtigt den Bussonderfahrstreifen Nutzenden nicht nach § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO durchfahren lassen, sondern hat Vorrang.
- A.
Problemstellung
In der vorliegenden Entscheidung hatte sich das Kammergericht in der II. Instanz mit der Frage der Verteilung der Haftungsanteile nach einem Verkehrsunfall zu befassen, bei dem einer der Verkehrsteilnehmer als unberechtigter Nutzer eines Sonderfahrstreifens mit einem Spurwechsler im fließenden Verkehr kollidierte.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Streitgegenständlich waren Ansprüche des Klägers nach einem dem Haftungsgrunde nach streitigen Verkehrsunfall auf dem Kurfürstendamm in Berlin.
Der Kläger befuhr den linken von insgesamt zwei vorhandenen Fahrstreifen. Dabei ist der rechte Fahrstreifen als Bussonderfahrstreifen (Verkehrszeichen 245) gekennzeichnet. Unmittelbar vor einem Kreuzungsbereich eröffnet sich rechts des Sonderfahrstreifens ein Rechtsabbiegefahrstreifen. Das dort aufgestellte Verkehrszeichen 340 erlaubt es den auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Verkehrsteilnehmern, über den Sonderfahrstreifen hin auf den Rechtsabbiegefahrstreifen zu wechseln.
Der Beklagte zu 1) hatte sein Fahrzeug auf dem Sonderfahrstreifen in zweiter Reihe neben dem Fahrzeug einer Zeugin zum Stillstand gebracht. Er hatte aus dem Fenster heraus Gegenstände an die Zeugin übergeben und mit dieser ein kurzes Gespräch geführt. Währenddessen näherte sich auf dem linken Fahrstreifen berechtigt von hinten der Kläger, der beabsichtigte, im Bereich der dafür vorgesehenen Stelle die mittlere Busspur zu überqueren, um den Rechtsabbiegefahrstreifen zu erreichen. Als der Kläger nahezu in gleicher Höhe war und einschwenkte, fuhr der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug nach links hin an. Hierbei kam es, als der Kläger seinerseits über die Busspur in Richtung des Rechtsabbiegefahrstreifens wechselte, zur Kollision der Fahrzeuge.
Das Landgericht (LG Berlin II, Urt. v. 20.02.2024 - 45 O 301/22) hatte zum Haftungsgrund dem Kläger 1/3 seiner Forderung zugesprochen und im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Er habe bei seinem über den Sonderfahrstreifen durchgeführten Spurwechsel das Vorrecht des Beklagten zu 1) beachten müssen und den Unfall so maßgeblich verursacht. Die demgegenüber dem Beklagten zu 1) anzulastenden Verkehrsverstöße fielen nicht gravierend ins Gewicht.
Das KG hat die Entscheidung abgeändert und die Haftung allein bei dem Beklagten zu 1) gesehen. Zwar verstoße das Anfahren aus zweiter Reihe grundsätzlich nicht direkt gegen den Wortlaut des § 10 Satz 1 StVO („vom Fahrbahnrand aus anfahren“). Jedoch bestünde bei einem Anfahren sowohl vom Fahrbahnrand als auch aus zweiter Reihe eine durchaus vergleichbare Gefährdungssituation, die das Erkennen des Anfahrens für andere Verkehrsteilnehmer grundsätzlich erschwere. Da das Halten in zweiter Reihe nach § 12 Abs. 4 StVO bereits unzulässig sei, habe der Gesetzgeber diesen Verkehrsvorgang nicht zusätzlich in die Vorschrift des § 10 Satz 1 StVO aufnehmen müssen. Es bestünde im Ergebnis eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die Absicht zum Einfahren in den fließenden Verkehr sei rechtzeitig (mindestens 5 Sekunden zuvor) anzuzeigen und der Vorrang des fließenden Verkehrs sei durchgängig zu beachten. Insoweit gelten die zu § 10 StVO entwickelten Grundsätze hinsichtlich des Anscheinsbeweises für die Verletzung dieser Pflichten auch in der Situation, in der aus zweiter Reihe heraus in den fließenden Verkehr zurückgekehrt werde.
Das KG kommt zu dem Ergebnis, dass der Beklagte zu 1) die Busspur nach links verlassen wollte und vor diesem Hintergrund für ihn und nicht den Kläger die Vorschriften des § 7 Abs. 5 StVO gelten. Es ergäbe sich nämlich kein Vorrang des Beklagten zu 1) bei dem von ihm beabsichtigten Verlassen der Busspur hin auf den linken Fahrstreifen gegenüber dem Kläger. Ein solches Vorrecht ließe sich insbesondere nicht aus § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO ableiten, da diese Regelung ausschließlich im gleichgerichteten Verkehr nutzungsberechtigte Verkehrsteilnehmer des Sonderfahrstreifens erfasse. Ein solcher sei der Beklagte zu 1) nicht, da er den Sonderfahrstreifen bereits nicht hätte befahren und im Übrigen auch nicht auf diesem hätte halten dürfen.
Demgegenüber fiele dem Kläger hier kein Verkehrsverstoß zur Last. Er sei an der maßgeblichen Stelle mit Blick auf die Anordnung des Verkehrszeichens 340 berechtigt gewesen, von dem linken Fahrstreifen über den Sonderfahrstreifen hinweg in Richtung der Rechtsabbiegespur zu fahren. Die Vorschrift des § 7 Abs. 5 StVO (deren Anwendung mit Blick auf die Tatsache des offenkundig bestehenden Fahrstreifenwechsels des Klägers naheläge) schütze den Beklagten zu 1) hier nicht, da die Vorschrift nur auf den fließenden Verkehr anzuwenden sei. Zu diesem zähle der Beklagte zu 1) mit Blick auf sein vorheriges Ausscheiden aus dem fließenden Verkehr durch nicht-verkehrsbedingtes Halten auf dem Sonderfahrstreifen aber nicht mehr.
- C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des KG erweist sich als richtig. Zutreffend geht das KG davon aus, dass bereits das Befahren des Sonderfahrstreifens durch den Beklagten zu 1) und das in der Folge dann stattfindende Halten auf diesem verkehrswidrig ist. Aus der Verwaltungsvorschrift zu Verkehrszeichen (VZ) 245 (Bus-Sonderfahrstreifen, Teil IV) folgt, dass „die Funktionsfähigkeit der Sonderfahrstreifen weitgehend von ihrer völligen Freihaltung vom Individualverkehr abhängt“. Der Beklagte hatte vor diesem Hintergrund nicht nur gegen die Verkehrsregelung des VZ 245 verstoßen, sondern auch gegen das Gebot des § 12 Abs. 4 StVO, wonach das Halten in zweiter Reihe grundsätzlich unzulässig ist. Die Frage, inwieweit der Beklagte zu 1) hier bereits geparkt hat oder noch hielt, konnte bei Bewertung dieser Frage schlussendlich dahinstehen.
Das KG nimmt insoweit ein Ausscheiden des Beklagten zu 1) aus dem fließenden Verkehr an. Gleichwohl lehnt das KG mit zutreffender Begründung eine unmittelbare Anwendung der Vorschrift des § 10 Satz 1 StVO dergestalt ab, als dass der Beklagte zu 1) offenkundig nicht vom Fahrbahnrand oder einem sonst untergeordneten Fahrbahnteil aus angefahren ist. Mit zutreffender Begründung zeigt das KG aber auf, dass bei einem Anfahren vom Fahrbahnrand und dem Anfahren aus zweiter Reihe eine grundsätzlich vergleichbare Gefährdungslage dergestalt besteht, als dass das Anfahren aus stehender Position heraus für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des fließenden Verkehrs in aller Regel nur sehr schwer zu erkennen und nicht vorherzusehen ist. Richtig wird aufgezeigt, dass das Anfahren aus zweiter Reihe heraus für den fließenden Verkehr demgegenüber sogar noch ein höheres Gefährdungspotenzial aufweist, da nicht aus einer Lücke heraus mit entsprechend niedriger Geschwindigkeit, sondern mit „freier Bahn nach vorne“ losgefahren werden kann, was für den fließenden Verkehr ein erhöhtes Gefährdungspotenzial – weil schlechter vorherzusehen – bedeutet.
Ebenfalls zutreffend wird darauf hingewiesen, dass der Beklagte zu 1) gegenüber dem Kläger bei Verlassen des Sonderfahrstreifens jedenfalls nicht bevorrechtigt war. Die Verkehrsregel des § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO ist nämlich für den Beklagten zu 1) offenkundig nicht einschlägig, da er nicht zu den privilegierten Verkehrsteilnehmern gehört. Vor diesem Hintergrund hatte sich der Beklagte zu 1) beim Verlassen des Sonderfahrstreifens so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Mit überzeugender Begründung gelangt das KG zu der Feststellung, dass dem Kläger hier auch kein Verkehrsverstoß anzulasten ist. Das Landgericht war noch von einem Verkehrsverstoß des Klägers gegen § 7 Abs. 5 StVO ausgegangen, da dieser unmittelbar vor der Kollision vom linken Fahrstreifen über den Sonderfahrstreifen in Richtung der Rechtsabbiegespur wechselte. Das KG weist allerdings darauf hin, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 5 StVO nur den fließenden Verkehr schützt (so auch BGH, Urt. v. 08.03.2022 - VI ZR 1308/20). Vor diesem Hintergrund können sich einfahrende Verkehrsteilnehmer oder wartepflichtige Verkehrsteilnehmer, die aus untergeordneten Straßen auf eine mehrspurige Fahrbahn einfahren wollen, auf den Schutzbereich des § 7 Abs. 5 StVO nicht berufen. Im konkreten Fall war der Fahrstreifenwechsel für den Kläger erlaubt, der Beklagte zu 1) war unmittelbar zuvor noch als Teil des ruhenden Verkehrs anzusehen. Zu Recht ist daher die Anwendung des § 7 Abs. 5 StVO hier ausgeschieden.
Im Ergebnis gelangt das KG so zu einer vollständigen Haftung aufseiten des Beklagten zu 1), dessen Verkehrsverhalten das KG hier wohl zutreffend als „grob“ bewertet.
- D.
Auswirkungen für die Praxis
Die verkehrswidrige Nutzung von Sonderfahrstreifen ist ein in der Praxis häufig anzutreffendes Problem, sei es zur „Abkürzung“ in Richtung einer Querstraße, zur Stauveremeidung oder zum Anhalten am Fahrbahnrand. Insbesondere das Auffahren auf den Sonderfahrstreifen und vor allem das Wieder-Einfahren vom Sonderfahrstreifen in die für den Individualverkehr freigegebenen weiteren Fahrspuren erweist sich als besonders unfallträchtig. Mit der hier vorliegenden Entscheidung zeigt das KG noch einmal anschaulich die hierfür geltenden Grundsätze insbesondere in den Fällen auf, in denen zuvor auf dem Sonderfahrstreifen auch noch gehalten oder geparkt wurde und der betreffende Verkehrsteilnehmer so aus dem fließenden Verkehr ausgeschieden ist. In diesen Fällen wird stets von einer weit überwiegenden, ggf. sogar – wie hier – alleinigen Haftung des verkehrswidrigen Nutzers des Sonderfahrstreifens auszugehen sein.