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Anmerkung zu:OLG Dresden 4. Zivilsenat, Beschluss vom 11.03.2025 - 4 U 1213/24
Autor:Dr. Markus Jacob, RA und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:23.05.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 522 ZPO, § 186 VVG
Fundstelle:jurisPR-VersR 5/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Schimikowski, RA
Zitiervorschlag:Jacob, jurisPR-VersR 5/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Die ärztliche Invaliditätsfeststellung in der privaten Unfallversicherung



Leitsätze

1. Auch wenn an eine Invaliditätsbescheinigung in der privaten Unfallversicherung keine hohen Ansprüche zu stellen sind, genügt es nicht, wenn sie nur die Invalidität als solche, nicht jedoch die (Mit-)ursächlichkeit des Unfallereignisses feststellt.
2. Die Ankündigung einer Vorschusszahlung durch den Versicherer kann der Versicherungsnehmer nur dann als konstitutives Schuldanerkenntnis verstehen, wenn zuvor Streit über die grundsätzliche Einstandspflicht, insbesondere über die Unfallbedingtheit der körperlichen Beschwerden bestand.



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der Versicherer kann sich auf das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung auch dann berufen, wenn er selbst ein medizinisches Gutachten in Auftrag gegeben hat.



A.
Problemstellung
Ziff. 2.1.1.2 AUB 2020 der Musterbedingungen knüpft ebenso wie frühere Bedingungswerke den Anspruch auf eine Invaliditätsleistung an die Einhaltung bestimmter Fristen. So kann eine Invaliditätsleistung nur beansprucht werden, wenn die Invalidität binnen 15 Monaten nach dem Unfallereignis eingetreten und ärztlich festgestellt worden ist. Fehlt es hieran, sind Leistungsansprüche grundsätzlich ausgeschlossen. Voraussetzung ist aber eine Belehrung i.S.v. § 186 VVG; zudem kann ein Fristversäumnis nach Treu und Glauben unbeachtlich sein.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger begehrt aufgrund zweier Unfälle vom 06.09.2020 und 23.09.2020 Leistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Unfallversicherung. Nach der jeweiligen Unfallanzeige und auch noch im Zuge der Schadensregulierung erteilte die Beklagte folgende, den Regelungen in den Versicherungsbedingungen entsprechende Hinweise:
„Invalidität: Diese muss als Unfallfolge innerhalb von 24 Monaten vom Unfalltag an gerechnet eingetreten sein und spätestens vor Ablauf einer Frist von weiteren 12 Monaten nach Ablauf der 24-Monatsfrist von Ihnen durch Vorlage eines ärztlichen Attestes geltend gemacht sein (36 Monate). Achten Sie bitte auf die genannten Fristen, damit ihr Invaliditätsanspruch erhalten bleibt.“
Im Zuge der Schadensregulierung erfolgte am 25.02.2021 eine Vertrauensärztliche Untersuchung. Ferner legte der Kläger diverse ärztliche Berichte zu beiden Unfällen vor. In einer fachärztlichen Stellungnahme vom 20.09.2021 wurde aufgrund von den einzelnen benannten Diagnosen festgestellt, dass der Kläger aufgrund dessen aktuell seinen Beruf nicht wettbewerbsfähig ausüben könne und die Beschwerden ihn dauerhaft beeinträchtigen.
Vor dem Hintergrund der mit der Einholung eines beklagtenseits in Auftrag gegebenen Gutachtens verbundenen zeitlichen Verzögerung zahlte die Beklagte Vorschüsse in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.
Im Gutachten vom 16.03.2022 zum Unfall vom 06.09.2020 stellte der Gutachter fest, dass – soweit gesundheitliche Schäden vorlägen – eine Kausalität zum Unfallereignis nicht festgestellt werden könne. Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 16.03.2022 ihre Leistungspflicht für den Unfall vom 06.09.2020 ab. Bezogen auf den Unfall vom 24.09.2020 erfolgte keine Leistungsablehnung.
Anlässlich eines Rechtsstreits des Klägers vor dem Sozialgericht wurde ein Zustandsgutachten vom 13.12.2023 erstattet.
Mit der Behauptung, es seien unfallbedingte Dauerschäden entstanden, begehrt der Kläger Leistungen aus dem Unfallversicherungsvertrag. Die notwendigen ärztlichen Invaliditätsfeststellungen zu beiden Unfällen ergäben sich aus den vorgelegten Arztberichten.
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht die Klage wegen Fehlens fristgerecht getroffener ärztlicher Invaliditätsfeststellungen abgewiesen.
Das OLG Dresden hat nach zuvor erfolgtem Hinweis die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die zulässige Berufung des Klägers biete in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung habe das Landgericht die Klage abgewiesen. Dem Kläger stünden gegen die Beklagte aus dem Unfallversicherungsvertrag keine Ansprüche wegen der Unfallereignisse vom 06.09.2020 und 23.09.2020 zu.
Ob eine dauerhafte Invalidität beim Kläger eingetreten und durch den Kläger fristgemäß angezeigt wurde, könne dahinstehen. Es fehle jedenfalls an einer fristgemäßen Feststellung der unfallbedingten dauerhaften Invalidität. Bei der fristgebundenen ärztlichen Invaliditätsfeststellung hande´le es sich um eine Anspruchsvoraussetzung. Daher führe die verspätete Vorlage selbst dann zum Ausschluss von Leistungsansprüchen, wenn den Versicherungsnehmer an der Nichteinhaltung der Frist kein Verschulden treffe.
Inhaltlich müsse die ärztliche Invaliditätsfeststellung die Schädigung und den Bereich, auf den sich diese auswirkt, sowie die Ursachen, auf denen der Dauerschaden beruht, so umreißen, dass der Versicherer bei seiner Leistungsprüfung vor der späteren Geltendmachung völlig anderer Gebrechen oder Invaliditätsursachen geschützt wird und stattdessen den medizinischen Bereich erkennen kann, auf den sich die Prüfung seiner Leistungspflicht erstrecken muss. Erforderlich sei somit die Angabe eines konkreten, die Leistungsfähigkeit beeinflussenden Gesundheitsschadens und die Aussage, dieser sei Unfallfolge und von Dauer. Es müsse zumindest festgestellt werden, dass das Unfallereignis für den Dauerschaden (mit)ursächlich ist. Erforderlich sei eine Wertung erhobener Befunde in Form eines ärztlichen Schlusses auf die eingetretene dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit der versicherten Person.
Es reiche also nicht aus, dass der Arzt lediglich einen konkreten, die Leistungsfähigkeit beeinflussenden Gesundheitsschaden bescheinigt. Kumulativ hinzutreten müsse die ärztliche Feststellung, dieser sei Unfallfolge und von Dauer. Daher genüge es nicht, wenn nur die Invalidität als solche bescheinigt, aber keine Feststellung getroffen werde, ob das Unfallereignis hierfür (mit)ursächlich gewesen ist. Fehle es hieran, seien Leistungsansprüche grundsätzlich ausgeschlossen.
Dies sei vorliegend der Fall. Mit den vorgelegten ärztlichen Attesten und Unterlagen werde teilweise keine dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigung belegt. Hinsichtlich weiterer behaupteter Gesundheitsschäden fehle die ärztliche Feststellung, dass diese zumindest auch als Unfallfolge eingetreten seien.
Vorliegend sei die in den Bedingungen bestimmte 36-monatige Frist für die ärztliche Invaliditätsfeststellung bezogen auf den Sturz auf dem Balkon am 06.09.2023 bzw. für das behauptete zweite Unfallereignis am 23.09.2023 abgelaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte keine den vorgenannten Grundsätzen entsprechende ärztliche Feststellung einer unfallbedingten Invalidität vorgelegen. Teilweise schlössen die Arztberichte sogar eine kausale Verknüpfung der bestehenden Beschwerden mit dem Unfall aus. Auch eine Dauerhaftigkeit der Beschwerden werde nicht sicher festgestellt, da eine obligate Behandlungsmöglichkeit in Form einer operativen Therapie bestehe, die der Kläger aber abgelehnt habe.
Schließlich könne sich der Kläger auch nicht auf das in einem sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten vom 13.12.2023 berufen. Dieses Gutachten sei bei der Beklagten erst nach Ablauf der 36-monatigen Frist eingegangen. Darüber hinaus stelle der Gutachter gerade nicht fest, dass unfallbedingte Dauerschäden bestünden.
Ansprüche ergäben sich entgegen der Auffassung der Klägerseite auch nicht daraus, dass die Beklagte Vorschusszahlungen erbracht habe. Der Kläger habe die Ankündigung von Vorschusszahlungen lediglich als Mitteilung über die Erfüllungsbereitschaft der Beklagten, nicht aber als Anerkenntnis im Sinne eines konstitutiven Schuldanerkenntnisvertrages verstehen können. Dass sie damit endgültig und verbindlich anerkennen wollte, die unfallbedingten Verletzungen des Klägers hätten zu einer Invalidität geführt, sei daraus nicht hervorgegangen. Vielmehr habe die Beklagte jeweils betont, dass es sich um Vorschussleistungen wegen der Verfahrensdauer und der Notwendigkeit der Einholung ärztlicher Unterlagen handle.
Entgegen der Auffassung des Klägers könne sich die Beklagte auf die Frist in ihren Versicherungsbedingungen berufen, denn sie habe auf die vertraglichen Anspruchs- und Fälligkeitsvoraussetzungen gemäß § 186 VVG mehrfach und hinreichend hingewiesen.
Die Berufung der Beklagten auf den Fristablauf sei auch nicht treuwidrig. Das Berufen des Versicherers auf den Ablauf der Frist zur ärztlichen Feststellung könne sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich erweisen. Das sei etwa dann anzunehmen, wenn dem Versicherer ein Belehrungsbedarf des Versicherungsnehmers hinsichtlich der Rechtsfolgen der Fristversäumnis deutlich wird, er aber gleichwohl eine solche Belehrung unterlässt. Davon könne auszugehen sein, wenn der Versicherte Invaliditätsansprüche rechtzeitig geltend macht, seine Angaben oder die von ihm vorgelegten ärztlichen Atteste den Eintritt eines Dauerschadens nahelegen, die erforderliche ärztliche Feststellung der Invalidität aber noch fehlt. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor.
Die Mitteilung der Beklagten in ihren Schreiben aus Oktober und November 2021, sie habe angesichts der Dauer und der noch ausstehenden Begutachtung Vorschusszahlungen angewiesen, begründe ebenso wenig wie der Umstand, dass die Beklagte ein Gutachten zur Überprüfung der Invalidität eingeholt hat, einen Vertrauenstatbestand dahin gehend, dass die Beklagte auf die Einhaltung der Frist auch dann verzichten wolle, wenn das Ergebnis für den Versicherungsnehmer negativ ausfällt. Allein der Umstand, dass der Versicherer in die Prüfung seiner Eintrittspflicht eintritt, begründe keinen Vertrauenstatbestand dahin gehend, dass er sich nicht auf die Fristversäumnis berufen werde – jedenfalls dann nicht, wenn in der ärztlichen Feststellung die Unfallbedingtheit der Invalidität verneint wird. Unter diesen Umständen habe der Kläger nicht davon ausgehen können, dass die Bescheinigung der Praxisklinik und die vorangegangenen Berichte und Arztbriefe genügten, um seine Ansprüche wirksam geltend zu machen.


C.
Kontext der Entscheidung
Im Ausgangspunkt stellt das OLG Dresden die Wesensmerkmale der Invaliditätsfeststellung zutreffend dar: Diese soll den Versicherer in die Lage versetzen, seine Leistungspflicht im Hinblick auf die geltend gemachte Invaliditätsleistung zu prüfen. Dies setzt entsprechende Feststellungen des behandelnden oder mit einer Untersuchung der versicherten Person beauftragten Arztes voraus, dass eine bestimmte Gesundheitsschädigung auf das Unfallereignis zurückzuführen und hierdurch die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit auf Dauer eingeschränkt ist (BGH, Beschl. v. 19.06.2008 - IX ZR 30/06; OLG Celle, Urt. v. 06.03.2024 - 11 U 127/23; OLG Saarbrücken, Urt. v. 18.10.2023 - 5 U 41/23 - RuS 2024, 371; OLG Naumburg, Urt. v. 01.02.2022 - 1 U 26/21 - VersR 2023, 367); nur ausnahmsweise können auch bloße Anamnesegespräche ausreichend sein, wenn es keine verlässlichen objektiven Methoden gibt, die geschilderte Symptomatik zu verifizieren, wie z.B. bei Konzentrations- und Schlafstörungen (OLG Bremen, Urt. v. 09.06.2016 - 3 U 23/14 - VersR 2018, 23; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.10.2003 - 5 U 157/03 - VersR 2004, 856). Erforderlich, aber auch ausreichend ist, wenn die Schädigung der betroffenen Körperteile sowie die Ursachen, auf denen der Dauerschaden beruht, derart umschrieben werden, dass der Versicherer den seiner Leistungsprüfung zugrunde zu legenden medizinischen Bereich erkennen kann (BGH, Urt. v. 07.03.2007 - IV ZR 137/06 - VersR 2007, 1114; OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.02.2022 - 5 U 37/21 - VersR 2022, 625; OLG Naumburg, Urt. v. 01.02.2022 - 1 U 26/21 - VersR 2023, 367). Nicht ausreichend ist demgegenüber die bloße Aussage, die versicherte Person sei invalide (OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.02.2017 - I-4 U 1/17 - RuS 2018, 87). Weiter gehende Anforderungen ergeben sich aus den AUB nicht. Insbesondere muss sich der Arzt nicht auf einen konkreten Invaliditätsgrad festlegen (BGH, Urt. v. 07.03.2007 - IV ZR 137/06 - VersR 2007, 1114), und zwar auch dann nicht, wenn die AUB Angaben zu einem Mindestinvaliditätsgrad voraussetzen, beispielsweise einem solchen von 50% zur Erlangung einer Unfallrente (OLG Dresden, Urt. v. 05.08.2020 - 4 U 322/20 - RuS 2021, 103; a.A. OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.03.2017 - 11 U 107/16).
Ergeben sich die Tatbestandsmerkmale einer Invaliditätsfeststellung aus der Zusammenschau zweier oder mehrerer Arztberichte, so ist auch damit den Interessen des Versicherers genügt (OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.02.2022 - 5 U 37/21 - VersR 2022, 625; a.A. OLG Naumburg, Urt. v. 01.02.2022 - 1 U 26/21 - VersR 2023, 367). Dies war vorliegend nicht der Fall.
Fehlt es an einer fristgerechten ärztlichen Feststellung der Invalidität, sind Ansprüche grundsätzlich ausgeschlossen. Denn die fristgerechte Invaliditätsfeststellung stellt nach einhelliger Meinung eine Anspruchsvoraussetzung dar (BGH, Urt. v. 22.05.2019 - IV ZR 73/18 - VersR 2019, 931; OLG Frankfurt, Urt. v. 16.03.2022 - 7 U 244/20 - VersR 2022, 691; OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.02.2022 - 5 U 37/21 - VersR 2022, 625), so dass der Anspruch im Falle der Fristversäumung bereits nicht zur Entstehung gelangt. Die Versäumung der Frist bleibt nach § 186 VVG allerdings dann ohne Rechtsfolgen, wenn der Versicherer es verabsäumt hat, den Versicherungsnehmer hierüber zu belehren. Entsprechendes gilt, wenn die Fristversäumnis nach Treu und Glauben unbeachtlich ist.
Vorliegend bestand zunächst die Besonderheit, dass in Abweichung zu den Muster-AUB, die hinsichtlich der ärztlichen Invaliditätsfeststellung lediglich eine Erstellung innerhalb der vorgesehenen Frist, nicht aber einen Zugang beim Versicherer voraussetzt, die ärztliche Invaliditätsfeststellung dem Versicherer innerhalb der vereinbarten Drei-Jahres-Frist zugegangen sein musste. Von daher hatte der Senat hinsichtlich des in einem sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachtens vom 13.12.2023 zu Recht darauf abgestellt, dass dieses Gutachten bei der Beklagten erst nach Ablauf der 36-monatigen Frist eingegangen war (wobei es hierauf nicht entscheidend ankam, da das Gutachten auch erst nach Ablauf der Frist erstellt worden war).
Zur Frage einer etwaigen Treuwidrigkeit in Bezug auf ein Berufen der Beklagten auf die Fristversäumnis hätte es keiner umfänglichen Ausführungen des Senats bedurft. Denn selbst bei Annahme einer Treuwidrigkeit wird nur die Fristversäumnis geheilt, während die Pflicht zur Vorlage einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung hiervon unberührt bleibt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.06.2011 - 4 U 149/10 - RuS 2012, 509; OLG Köln, Urt. v. 23.04.2010 - 20 U 7/10). Da der Kläger bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eine solche nicht vorgelegt hatte, hätte auch ein Verstoß gegen Treu und Glauben der Klage nicht zum Erfolg verhelfen können.
Soweit der Senat einen Verstoß gegen Treu und Glauben verneint hat, befindet er sich im Einklang mit der h.M. Zwar hat der Versicherer ein ärztliches Gutachten zu den Dauerfolgen des Unfalls eingeholt, allerdings den Versicherungsnehmer darauf hingewiesen, dass dieser unbeschadet dessen selbst für eine fristgerechte ärztliche Feststellung der Invalidität zu sorgen habe. In diesem Fall sei eine Treuwidrigkeit zu verneinen (OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.02.2022 - 5 U 37/21 - VersR 2022, 625; OLG Frankfurt, Urt. v. 26.01.2022 - 7 U 130/16 - RuS 2022, 585; OLG Hamm, Urt. v. 10.12.2020 - 6 U 72/20 - RuS 2021, 591). Insoweit drängt sich allerdings die Frage auf, welchen Sinn und Zweck eine ärztliche Invaliditätsfeststellung haben soll, mit der eine Invalidität hinsichtlich des Körperbereichs festgestellt werden soll, der bereits Gegenstand der vom Versicherer initiierten gutachterlichen Untersuchung war, soll doch die Invaliditätsfeststellung den Versicherer in die Lage versetzen, seine Leistungspflicht im Hinblick auf die geltend gemachte Versicherungsleistung zu prüfen. Dieser Zweck der ärztlichen Invaliditätsfeststellung kann nicht mehr erfüllt werden, wenn der Versicherer aus anderen Quellen Kenntnis von den zu begutachtenden Körperteilen hat und auf dieser Grundlage ein Gutachten einholt. In diesem Fall ist das Erfordernis einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung obsolet, wie folgende Kontrollüberlegung ergibt: Hat der Versicherer ein Gutachten eingeholt und anschließend Leistungen abgelehnt, so würde sich an dieser Auffassung auch dann nichts mehr ändern, wenn der Versicherungsnehmer ein Attest vorlegt, in welchem ein Arzt eine unfallbedingte Invalidität bescheinigt. Denn ein solches Attest beschränkt sich erfahrungsgemäß auf wenige Sätze und ist daher per se nicht geeignet, ein ausführliches Gutachten zu entkräften. Besteht also der Versicherer trotz eingeholten Gutachtens darauf, dass der Versicherungsnehmer eine ärztliche Invaliditätsfeststellung beibringt, verhält er sich nach diesseitiger Ansicht widersinnig und damit widersprüchlich, ist sein Ansinnen also treuwidrig.
Die Ausführungen des Senats in seinem Zurückweisungsbeschluss zu einer möglichen Anerkenntniswirkung der Vorschusszahlungen sind offensichtlich einem entsprechenden Sachvortrag der Klägerseite auf den vorangegangenen Hinweisbeschluss geschuldet. Andernfalls hätte der Senat kaum Veranlassung gehabt, hierauf einzugehen; der Gedanke, als Vorschusszahlungen deklarierte Leistungen könnten als deklaratorisches Schuldanerkenntnis gewertet werden, ist doch recht fernliegend.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Nach Auffassung des OLG Dresden – und auch der h.M. – verhält sich ein Versicherer nicht treuwidrig, wenn er selbst ein Gutachten zur Feststellung der Invalidität in Auftrag gibt, dabei den Versicherungsnehmer auf das Erfordernis einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung hinweist und sich später darauf beruft, eine ärztliche Invaliditätsfeststellung sei nicht fristgerecht erstellt worden. Es bleibt zu hoffen, dass diesbezüglich künftig eine andere Betrachtungsweise die Oberhand gewinnt.



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