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Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 16.01.2024 - VI ZR 253/22
Autor:Felician Scheu, RA und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:12.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 249 BGB, § 308 ZPO
Fundstelle:jurisPR-VersR 7/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Schimikowski, RA
Zitiervorschlag:Scheu, jurisPR-VersR 7/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Neues zu Umfang und Reichweite des Werkstattrisikos



Leitsatz

Auch bei unbezahlter Werkstattrechnung kann sich der Geschädigte auf das sog. Werkstattrisiko berufen und in dessen Grenzen Zahlung von Reparaturkosten, Zug um Zug gegen Abtretung seiner diesbezüglichen Ansprüche gegen die Werkstatt an den Schädiger, verlangen, allerdings nicht an sich selbst, sondern an die Werkstatt.



A.
Problemstellung
In fünf parallel ergangenen Revisionsentscheidungen hat der BGH über die Ersatzfähigkeit von Kfz-Reparaturkosten im Falle des sog. Werkstattrisikos entschieden (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22, VI ZR 51/23). Der VI. Zivilsenat des BGH hat mit diesem Rundumschlag seine bestehende Rechtsprechung zum Werkstattrisiko konkretisiert und aufgezeigt, wie weit die Haftung in verschiedenen Konstellationen reicht.
Bei allen diesen Fällen, zu dem auch der hier besprochene gehört, geht es um Sachverhalte, in denen der Geschädigte eines Verkehrsunfalls sein Fahrzeug zur Reparatur brachte und sodann vom Unfallverursacher die Zahlung des dafür erforderlichen Geldbetrags, mithin der Reparaturkostenrechnung verlangte.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien stritten um restliche Reparaturkosten nach einem Verkehrsunfall im Jahre 2021, bei dem der Pkw der Klägerin durch einen Versicherungsnehmer der Beklagten beschädigt worden war. Die Haftung dem Grunde nach war unstreitig.
Die Klägerin ließ das Fahrzeug am Unfalltag durch einen Sachverständigen begutachten und das Fahrzeug in einem Autohaus reparieren. Der durch das Autohaus für die Reparatur in Rechnung gestellte Betrag wurde klägerseits noch nicht beglichen und beklagtenseits nur zum Teil erstattet.
Die mit der Klage geltend gemachte offene Differenz betrug 1.054,46 Euro. Die Beklagte verwies auf einen Prüfbericht eines Drittunternehmens, der um diesen Betrag geringere Reparaturkosten auswies.
Das erstinstanzliche Amtsgericht ließ ein Sachverständigengutachten zur Höhe der objektiv erforderlichen Reparaturkosten einholen und verurteilte die Beklagte auf dieser Basis, an die Klägerin weitere Reparaturkosten i.H.v. 389,23 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Im Übrigen wurde die Klage – hinsichtlich der Reparaturkosten – abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrte die Klägerin sodann Erstattung der weiteren Reparaturkosten i.H.v. 665,23 Euro, Zug um Zug gegen Abtretung ihrer Ansprüche auf Schadensersatz gegen das Autohaus aufgrund möglicherweise überhöhter Abrechnung.
Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht habe der Frage nachzugehen, inwieweit die reparierten Fahrzeugschäden nicht unfallbedingt bzw. die durchgeführten Instandsetzungsarbeiten nicht Teil der Reparatur der Unfallschäden sind. Denn nur insoweit könne sich die Klägerin nicht auf das Werkstattrisiko berufen.


C.
Kontext der Entscheidung
In vorliegender Entscheidung erinnerte der BGH zunächst daran, dass bereits nach ständiger Rechtsprechung das Werkstattrisiko grundsätzlich beim Schädiger liegt. Der Geschädigte eines Verkehrsunfalls ist insoweit berechtigt, sein beschädigtes Fahrzeug zur Reparatur in eine Werkstatt zu geben und vom Unfallverursacher den hierfür erforderlichen Geldbetrag zu verlangen, § 249 Abs. 2 BGB.
Übergibt der Geschädigte das beschädigte Fahrzeug an eine Fachwerkstatt zur Instandsetzung, ohne dass ihn insoweit ein (insbesondere Auswahl- oder Überwachungs-)Verschulden trifft, so sind die dadurch anfallenden Reparaturkosten im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger auch dann vollumfänglich ersatzfähig, wenn sie aufgrund unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt unangemessen, mithin nicht erforderlich i.S.v. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind.
In einem solchen Fall spielen etwaig bestehende Ansprüche des Geschädigten gegen den Werkstattbetreiber nur insoweit eine Rolle, als der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs deren Abtretung verlangen kann. Nicht erfasst vom Werkstattrisiko sind indessen Reparaturen, die nur bei Gelegenheit der Instandsetzungsarbeiten mitausgeführt worden sind. Der Geschädigte trägt daher die Darlegungs- und Beweislast für das Vorhandensein und die Unfallbedingtheit der jeweiligen Fahrzeugschäden.
Mit vorliegender Entscheidung stellt der Senat klar, dass das Werkstattrisiko nicht nur für solche Rechnungspositionen greift, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Ansätze von Material oder Arbeitszeit überhöht sind. Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind vielmehr auch diejenigen Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte einzelne Reparaturschritte und Maßnahmen beziehen. Denn auch insofern findet die Schadensbeseitigung in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre statt. Voraussetzung ist somit stets die Nichterkennbarkeit für den Geschädigten. Soweit der Schädiger das Werkstattrisiko trägt, verbietet sich im Schadensersatzprozess zwischen Geschädigtem und Schädiger mangels Entscheidungserheblichkeit entsprechend eine Beweisaufnahme über die objektive Erforderlichkeit der in Rechnung gestellten Reparaturkosten.
Nachdem der BGH am selben Tage noch vier weitere Entscheidungen verkündete, die allesamt das Werkstattrisiko in vergleichbaren Konstellationen zum Inhalt hatten, soll nachfolgend kurz auf diese eingegangen werden.
So hat der BGH ferner entschieden, dass der Geschädigte bei Beauftragung einer Fachwerkstatt grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass diese keinen unwirtschaftlichen Weg für die Schadensbeseitigung wählt (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 51/23). Er ist daher nicht gehalten, vor der Beauftragung der Fachwerkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einzuholen und den Reparaturauftrag auf dieser Grundlage zu erteilen. Aber auch wenn der Geschädigte ein Sachverständigengutachten einholt und die Auswahl des Sachverständigen der Werkstatt überlässt, führt allein dies nicht zur Annahme eines Auswahl- oder Überwachungsverschuldens.
Weiter stellte der Senat klar, dass die Anwendung der Grundsätze zum Werkstattrisiko nicht voraussetze, dass der Geschädigte die Reparaturrechnung bereits bezahlt hat. Soweit der Geschädigte die Reparaturrechnung nicht beglichen hat, kann er – will er das Werkstattrisiko nicht selbst tragen – die Zahlung der Reparaturkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an die Werkstatt verlangen (vgl. BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 253/22, VI ZR 266/22, VI ZR 51/23). Hat der Geschädigte die Rechnung der Werkstatt nicht (vollständig) beglichen, ist nämlich zu berücksichtigen, dass ein Vorteilsausgleich durch Abtretung etwaiger Gegenansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt an den Schädiger aus Rechtsgründen nicht gelingen kann, wenn der Geschädigte auch nach Erhalt der Schadensersatzleistung vom Schädiger von der (Rest-)Zahlung an die Werkstatt absieht. Zugleich wäre der Geschädigte durch den Schadensersatz bereichert, wenn er vom Schädiger den vollen von der Werkstatt in Rechnung gestellten Betrag erhielte, gegenüber der Werkstatt aber die Zahlung eines Teilbetrages unter Berufung auf den insoweit fehlenden Vergütungsanspruch oder auf einen auf Freistellung gerichteten Gegenanspruch verweigerte. Demgegenüber wäre der Schädiger schlechtergestellt, als wenn er die Reparatur der beschädigten Sache selbst veranlasst hätte; denn im letzteren Fall hätte er als Vertragspartner der Werkstatt die Zahlung der zu hoch berechneten Vergütung verweigern können.
Aus diesem Grund kann der Geschädigte, der sich auf das Werkstattrisiko beruft, aber die Rechnung der Werkstatt noch nicht (vollständig) bezahlt hat, von dem Schädiger Zahlung des von der Werkstatt in Rechnung gestellten (Rest-)Honorars nur an die Werkstatt und nicht an sich selbst verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (das Werkstattrisiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt. Wählt der Geschädigte bei unbezahlter Rechnung hingegen Zahlung an sich selbst, so trägt er und nicht der Schädiger das Werkstattrisiko. Er hat dann im Schadensersatzprozess gegen den Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer ggf. zu beweisen, dass die abgerechneten Reparaturmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und dass die Reparaturkosten nicht etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt nicht erforderlich sind. Schließlich stehe es dem Geschädigten im Rahmen von § 308 Abs. 1 ZPO frei, vom Schädiger statt Zahlung Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber der Werkstatt zu verlangen. In diesem Fall richte sich sein Anspruch grundsätzlich bis zur Grenze des Auswahl- und Überwachungsverschuldens danach, ob und in welcher Höhe er mit der Verbindlichkeit, die er gegenüber der Werkstatt eingegangen ist, beschwert ist. Es ist also die Berechtigung der Forderung, von der freizustellen ist, und damit die werkvertragliche Beziehung zwischen Geschädigtem und Werkstatt maßgeblich.
Schließlich hat der Senat entschieden, dass sich die Option des Geschädigten, sich auch bei unbeglichener Rechnung auf das Werkstattrisiko zu berufen, nicht im Wege der Abtretung auf Dritte übertragen lässt, (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 und VI ZR 239/22). Denn der Schädiger hat insoweit ein besonders schutzwürdiges Interesse daran, dass der Geschädigte sein Gläubiger bleibt. Allein im Verhältnis zu diesem ist nämlich die Durchführung des Vorteilsausgleichs in jedem Fall möglich, weil der Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger und die im Wege des Vorteilsausgleichs abzutretenden – etwaigen – Ansprüche gegen die Werkstatt in einer Hand, nämlich beim Geschädigten, liegen. Im Ergebnis trägt daher bei Geltendmachung des Anspruchs aus abgetretenem Recht stets der Zessionar das Werkstattrisiko.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass der BGH seine Rechtsprechung im Hinblick auf das Werkstattrisiko geradlinig fortführt und die Rechte des Geschädigten grundsätzlich stärkt bzw. dessen schutzwürdiges Vertrauen in die ordnungsgemäße Arbeit einer Fachwerkstatt unterstreicht.
Er stellt unter anderem klar, dass das Werkstattrisiko nicht nur für unsachgemäße Reparaturarbeiten, sondern auch für Reparaturpositionen gilt, die tatsächlich nicht durchgeführt wurden – zumindest sofern der Geschädigte dies nicht erkennen konnte (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 253/22) und die Grundsätze des Werkstattrisikos auch bei einer nicht bezahlten Rechnung greifen. Allerdings kann der Geschädigte in einer solcher Konstellation nur Zahlung, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger Ansprüche gegen die Werkstatt, an die Werkstatt verlangen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 253/22 - VI ZR 266/22, VI ZR 51/23).
Geht die Werkstatt selbst aus abgetretenem Recht vor, kann sie sich hingegen nicht auf das Werkstattrisiko berufen, da die Rechte aus dem Werkstattrisiko nicht abtretbar sind, (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 und VI ZR 239/22).
Konsequenterweise endet der Umfang des Werkstattrisikos dann, wenn Reparaturarbeiten abgerechnet werden, die nicht unfallbedingt sind. In diesem Fall trägt der Geschädigte die Darlegungs- und Beweislast für die Kausalität zwischen Unfall und Schaden (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 253/22).



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